Ältere Beschäftigte im Wandel der Arbeit
Die Studie „lidA – Leben in der Arbeit“ betrachtet, wie sich der Wandel der Arbeitswelt und ein erhöhtes Rentenalter auf ältere Beschäftigte in Deutschland auswirken. Die dritte Befragungswelle der lidA-Studie untersucht mit repräsentativen Daten die präventionsrelevanten Themen Nutzung digitaler Arbeitsmittel, Wechsel in der Berufslaufbahn und Arbeiten mit Krankheit.
Die Arbeitswelt wandelt sich in vielfältiger Weise. Globalisierung der Wirtschaft und technischer Fortschritt treffen auf eine alternde Erwerbsbevölkerung. Gleichzeitig sieht sich diese vor der Erwartung einer verlängerten Lebensarbeitszeit. Was bedeutet dies für ältere Beschäftigte?
Seit 2009 läuft deutschlandweit die Studie „lidA – Leben in der Arbeit“, die auf Basis einer repräsentativen Stichprobe älterer Beschäftigter Situation, Entwicklung und Auswirkungen der Arbeitswelt untersucht (siehe Infokasten „Studien-Steckbrief“). Die DGUV nutzte dieses Potenzial und förderte die Untersuchung von präventionsrelevanten Aspekten des Themas in der dritten Befragungswelle der lidA-Studie. Im Fokus stand dabei zum einen, wie die Zielgruppe die Nutzung digitaler Arbeitsmittel und die mögliche Flexibilisierung der Arbeit erlebt. Zum anderen wurde untersucht, wie es im höheren Erwerbsalter zu Tätigkeits-, Berufs- und Arbeitgeberwechseln kommt und welche Folgen diese haben. Der dritte Themenbereich war das Arbeiten mit Krankheit.
Im Folgenden werden ausgewählte Ergebnisse des Projektes dargestellt.
Studien-Steckbrief „lidA – Leben in der Arbeit“
- Die Studie folgt zwei Kohorten älterer Beschäftigter (geboren 1959 und 1965), die wiederholt befragt werden.
- Befragte wurden zufällig und repräsentativ aus Daten der Bundesagentur für Arbeit (sozialversicherungspflichtig beschäftigt zum 31. Dezember 2009) gezogen.
- Die Personen wurden an 220 Orten in Deutschland jeweils in ihrer eigenen Wohnung interviewt.
- Erhebungswellen fanden 2011, 2014 und 2018 statt. Das Projekt verwendete vor allem Daten aus 2018 (3.586 Personen).
Informationen zur lidA-Studie unter: www.lida-studie.de
Factsheets: https://arbeit.uni-wuppertal.de/de/ergebnisse/factsheets.html
Digitale Arbeitsprozesse ganzheitlich gestalten
Unter älteren Beschäftigten sind digitale Arbeitsmittel weitverbreitet, allerdings überwiegend traditionelle wie Computer, Mobiltelefon und E-Mail. Nur wenige nutzen jüngere Technologien wie Datenbrillen (weniger als ein Prozent). Zwölf Prozent verwenden so gut wie kein digitales Arbeitsmittel, damit liegt der Anteil nicht höher als in anderen Altersgruppen.[1]
Sicher in der Nutzung und zufrieden mit der digitalen Ausstattung – so sehen sich die meisten Befragten, Frauen wie Männer, Viel- und Wenignutzende. Ein Sechstel der Befragten gehört jedoch zu einer Risikogruppe mit „digitalem Stress“.[2] Hier finden sich verstärkt Angehörige von Berufsgruppen, in denen vornehmlich mit Menschen gearbeitet wird oder einfache Tätigkeiten ausgeführt werden. Ein Fünftel der Befragten berichtet eine Arbeitsintensivierung durch digitale Arbeitsmittel, muss also schneller und/oder mehr arbeiten. Dies erwies sich dann als kritischer Faktor: Ist die Arbeitsintensität hoch, sind psychische Gesundheit und Arbeitsfähigkeit meist schlechter und das selbst eingeschätzte Rentenalter liegt um bis zu zwei Jahre niedriger.
Positiv ist, dass knapp drei Viertel der Befragten ihre digitalen Arbeitsmittel als eine Unterstützung erleben. Allerdings empfinden drei von zehn Befragten die Einarbeitung in neue Systeme als unzureichend und zu schnell. Das ist wichtig, weil betriebliche Unterstützung nicht nur mit der Zufriedenheit mit digitalen Arbeitsmitteln zusammenhängt, sondern auch mit der gesamten Arbeitsfähigkeit. Außerdem kann eine Beanspruchung durch hohe IT-Lernanforderungen dadurch abgefedert werden.[3] Dies zeigt, dass digitale Arbeitsprozesse im Betrieb ganzheitlich gestaltet werden müssen.
Mit der „erweiterten arbeitsbezogenen Erreichbarkeit“ wurde ein weiteres aktuelles Thema untersucht. In der Freizeit dienstlich erreichbar zu sein, diese Erwartung wird an drei von zehn Befragten gerichtet. Die Hälfte von ihnen ist damit unzufrieden und zeigt verringerte Arbeitsfähigkeit. Wenn Erreichbarkeit erwartet wird, wird dies von einem größeren Anteil von Befragten negativ beurteilt, als wenn dienstliche E-Mails in der Freizeit abgerufen werden oder Kontakte tatsächlich stattfinden (siehe Abbildung 1). Stark betroffen sind Lehrkräfte und Pflegekräfte. Unter Letzteren fühlt sich ein deutlich größerer Anteil dadurch ungünstig beansprucht.
Wechsel von Tätigkeit, Beruf und Unternehmen sind Alltag
Entgegen allen Stereotypen findet sich unter älteren Beschäftigten noch einige Dynamik im Berufsleben: Mehr als jede zehnte ältere erwerbstätige Person in lidA hat in den vergangenen drei Jahren den Beruf oder auch das Unternehmen gewechselt, und dies zumeist auf eigene Initiative. Bei fast der Hälfte der älteren Erwerbstätigen verändern sich die Arbeitsaufgaben innerhalb von drei Jahren deutlich, zumeist geht dies allerdings vom Arbeitgeber aus. Nach einem freiwilligen Wechsel (und zum Teil auch nach einem unfreiwilligen) verbessern sich die Gesundheit und Arbeitsfähigkeit oft messbar, vor allem nach einem Wechsel des Unternehmens. Wer freiwillig wechselt, will außerdem oft länger erwerbstätig bleiben. Hier zeigt sich das hohe positive Potenzial einer solchen Veränderung.
Die Gruppe, die gern wechseln würde, es aber nicht getan hat, ist mit zehn Prozent ebenso groß. Hier haben viele eine schlechtere Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, die sich oft noch über die Zeit verschlechtern, wenn sie an ihrem Arbeitsplatz bleiben. In den Betrieben gilt es, Angehörige dieser Risikogruppe zu identifizieren und mit ihnen individuelle betriebliche Lösungen zu finden.
Und warum wird gewechselt oder ein Wechsel gewünscht? Als Hauptgründe nennen die Beschäftigten meist bessere Arbeitsbedingungen, berufliche Weiterentwicklung und ein besseres Gehalt. Gesundheitliche Gründe werden dagegen eher selten als Hauptgrund für einen Wechsel genannt, was im Kontrast zu der realen gesundheitlichen Verbesserung steht.
Arbeiten mit Krankheit – es gibt mehr zu tun
Bei über der Hälfte der 50- bis 64‐Jährigen in Deutschland lagen im Jahr 2009 mindestens zwei chronische Krankheiten vor. Jedoch hat etwa die Hälfte der Beschäftigten mit einer chronischen Krankheit keine Einbußen ihrer Arbeitsleistung.[4] Welche betrieblichen Maßnahmen tragen dazu bei, dass Menschen mit Krankheit weiterhin erwerbstätig bleiben können?
In der lidA-Studie konnten rund 1.300 Beschäftigte mit gesundheitlichen Einschränkungen untersucht werden. Die Hälfte hat in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eine betriebliche Maßnahme zum Erhalt von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit erhalten. Die gute Nachricht: 60 Prozent all derer, die sie erhalten haben, bewerteten die Maßnahmen als hilfreich. Die schlechte Nachricht: Die Befragten wünschen sich mehr und andere Maßnahmen (siehe Abbildung 2). Vor allem vermissen sie Veränderungen der Arbeitsaufgaben, am Arbeitsplatz und der Arbeitszeit. Diese Maßnahmen sind es im Übrigen auch, die als besonders „hilfreich“ erlebt werden. Gespräche werden nur dann als hilfreich erlebt, wenn die Gesundheit der Mitarbeitenden dem oder der Vorgesetzten wichtig war.
Betriebe sollten also Maßnahmen zur Förderung von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit häufiger nutzen als bisher, insbesondere arbeitsplatznahe Interventionen. Gespräche allein erscheinen dagegen als wirkungslose Alibimaßnahme, wenn nicht die Beschäftigten ein aufrichtiges Interesse des Betriebes am Erhalt der Gesundheit wahrnehmen. Es kommt darauf an, dass Vorgesetzte und Personalmanagement die richtigen Beschäftigten identifizieren und sie gezielt auf ihren Bedarf ansprechen. Dies gilt insbesondere für Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten – diese äußern seltener den Wunsch nach Maßnahmen und erleben sie auch öfter als nicht hilfreich.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS): Monitor Digitalisierung am Arbeitsplatz. Aktuelle Ergebnisse einer Betriebs- und Beschäftigtenbefragung, 2016,. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/a875-monitor-digitalisierung-am-arbeitsplatz.pdf?__blob=publicationFile&v=1 (abgerufen am 04.03.2022).
Ebener, M.; Garthe, N.; Dettmann, M. et al.: Abschlussbericht zum Vorhaben lidA III. Auswirkungen des Wandels der Arbeit auf Gesundheit und Beschäftigung bei älteren Erwerbstätigen in Deutschland, 2021, https://www.dguv.de/ifa/forschung/projektverzeichnis/ff-fp0403.jsp (abgerufen am 24.03.2022).
Ebener, M.; Stiller, M.: Betriebliche Unterstützung als Puffer für die Auswirkung von IKT-Lernanforderungen – Ergebnisse der lidA-Studie. In: Trimpop, R.; Fischbach, A.; Seliger, I. et al. (Hrsg.): 21. Workshop Psychologie der Arbeitssicherheit und Gesundheit. Gewalt in der Arbeit verhüten und die Zukunft gesundheitsförderlich gestalten! Asanger Kröning, 2021, S. 83 - 86
Hasselhorn, H. M.; Müller, B. H.: Ältere Beschäftigte in der digital vernetzten Welt. In: Gesellschaft für Arbeitswissenschaft e. V. (Hrsg.): Dokumentation der Herbstkonferenz der Gesellschaft für Arbeitswissenschaft e. V. vom 12. bis 13. September 2019, Böblingen, GfA-Press, 2019.
Varekamp, I.; Van Dijk, F. J. H.; Kroll, L. E.: Workers with a chronic disease and work disability. In: Bundegesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 56(3), 2013, S. 406–414, https://doi.org/10.1007/s00103-012-1621-1 (abgerufen am 04.03.2022).
Interview: „Ungeborgene Schätze der Arbeitsschutzforschung entdecken“
Prof. Dr. Hans Martin Hasselhorn von der Bergischen Universität Wuppertal ist Leiter der deutschlandweiten Kohortenstudie „lidA – Leben in der Arbeit“. Im Interview spricht er über die Hintergründe der Studie.
Was bedeutet für Sie die lidA-Förderung durch die DGUV?
Hasselhorn: Sie bedeutet uns sehr viel, und dies nicht nur deshalb, weil sie maßgeblich zur Realisierung der dritten Befragungswelle unserer Studie beigetragen hat. Aus Sicht des Arbeitsschutzes hat die Förderung wichtige praxisrelevante Forschungsthemen in Deutschland vorangebracht. Zur Frage des beruflichen Wechsels konnten wir wohl weltweit erstmals eine umfassende theoretische und faktische Übersicht liefern – und gleichzeitig eine Ergänzung zu weiteren laufenden Projekten wie dem Projekt Terra in der „Stay at Work“-Forschung, in der es darum geht, Beschäftigte mit funktionellen Einschränkungen im Erwerbsleben zu halten. Nun sind wir dabei, mit den guten Daten den Forschungsanschluss an Länder wie die Niederlande und Skandinavien zu finden. Was die Frage der Digitalisierung der Arbeitswelt angeht, so tragen wir zum engagierten Diskurs der entsprechenden Forschungscommunity bei. Die Übereinstimmung unserer klaren Ergebnisse mit denen der anderen Forschungsgruppen ist erfreulich. Was uns natürlich auch freut, ist die Relevanz unserer Ergebnisse für alle drei Ebenen: für die Beschäftigten, die Betriebe und die nationale Ebene.
Das heißt, im Rückblick bewerten Sie das Projekt positiv?
Ja natürlich! Aber das Projekt wird auch über den Förderzeitraum hinaus Wirkung zeigen. Während wir die Frage des beruflichen Wechsels als „ausgeforscht“ ansehen, werden wir die „Stay at Work“-Forschung mit der nächsten Befragungswelle 2022 deutlich ausbauen. Aufgrund ihres Designs ist die lidA-Studie hierfür prädestiniert. Dies betrifft insbesondere die betrieblichen Maßnahmen zum Erhalt von Gesundheit und Arbeitsfähigkeit, aber auch das Betriebliche Eingliederungsmanagement. Auch die Digitalisierung der Arbeitswelt wird uns weiter beschäftigen.
Noch zwei Punkte sind mir wichtig: Mit der vierten Erhebungswelle können wir die DGUV-Themen der dritten Welle in Bezug zu den wichtigen Endpunkten Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und Erwerbsteilhabe vier Jahre später setzen. Dies hilft uns, vermutete Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge abzusichern. Ferner werden wir im Jahr 2023 der Arbeitsschutzforschung den Zugang zu Daten aller vier lidA-Wellen ermöglichen. Es ist unser Wunsch, dass möglichst viele Forschungsgruppen hierauf zugreifen und bisher ungeborgene Schätze der Arbeitsschutzforschung entdecken.
Wie bringen Sie Ihre Ergebnisse in die Praxis?
Das ist eine Kernfrage, die wir ernst nehmen. Wissenschaftliche Publikationen bringen diesbezüglich nicht viel. Daher bereiten wir unsere Ergebnisse inzwischen auch in Factsheets auf, die über unsere Projektwebsite kostenfrei zugänglich sind.
Zurzeit erstellen wir für ein Projekt, das die Berufsgenossenschaft Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege fördert, eine Broschüre zur Arbeitssituation und beruflichen Perspektive älterer Beschäftigter im Gesundheitsdienst. Natürlich ist es unser Wunsch, dass unsere Ergebnisse und Themen noch mehr Eingang in Kreise der Unfallversicherung finden, und wir sind dankbar für Anregungen und weitere Verwertung.
Welches Ergebnis hat Sie besonders überrascht?
Da könnte ich sehr viele nennen. Exemplarisch seien hier die positiven Auswirkungen von beruflichem Wechseln im höheren Erwerbsalter genannt. Was mich sehr zufrieden mit unserer Studie macht, ist die Möglichkeit, zwischen Gruppen, zum Beispiel Berufsgruppen, zu differenzieren. Hier möchte ich die besonders hohe Beanspruchung der Pflegeprofession durch die erweiterte Erreichbarkeit nennen und die dagegen deutlich geringere Beanspruchung der Lehrer und Lehrerinnen – obwohl beide Gruppen dieses Phänomen häufiger erleben als andere Beschäftigtengruppen.
Gab es besondere Probleme bei der Durchführung der Studie?
Eine Herausforderung bei einem Projekt dieser Größe ist der strikte Zeittakt, in dem das Erhebungsinstrument entwickelt, abgestimmt, programmiert und intensiv geprüft werden muss. Dies wird auch von Welle zu Welle komplexer. Hier konnten wir allerdings von unserer Erfahrung aus den ersten beiden Wellen sehr profitieren.
Aktuell müssen wir schauen, wie sich die Corona-Pandemie auf die kommende Erhebung auswirkt. Wir haben das Thema in unserer kommenden Befragung natürlich berücksichtigt: Waren Beschäftigte erkrankt? Hat sich Corona auf die Arbeitssituation ausgewirkt? Die besondere Situation im Gesundheitsdienst nehmen wir mit einem eigenen Fragebogenmodul in den Blick, das wir zusammen mit der Abteilung von Professor Nienhaus vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf entwickelt haben. So können wir die Auswirkungen von Corona inhaltlich erfassen.
Wie geht es mit lidA weiter?
In der kommenden Erhebung 2022 werden wir zu den bisherigen neue Teilnehmende ergänzen, sodass wir jeweils 3.000 Personen pro Jahrgang 1959 und 1965 befragen. Außerdem kommen 3.000 Teilnehmende des Geburtsjahrgangs 1971 hinzu. Wir sind gespannt, ob sich die Befragungsergebnisse der Jüngeren von denen der Älteren unterscheiden, denn die Unterschiede zwischen den bisherigen beiden Jahrgängen sind in vielen Punkten gering.
Die Themen werden ausgeweitet: Bedeutende Schwerpunkte werden Rehabilitation und Wiedereingliederung sein. Von der Untersuchung der Gesundheitskultur in Betrieben versprechen wir uns viel – ein paralleles Thema zur Arbeitsschutzkultur, die die gesetzliche Unfallversicherung im Blick hat. Neue Themen sind die Erwerbsminderungsrente, Basisarbeit und die soziale Ungleichheit. Immer im Blick ist natürlich die Corona-Pandemie.
Das Interview führte Sabine Herbst