„Der Arbeitsmarkt ist und bleibt einer der wichtigsten Schlüssel zu mehr Inklusion“
Während der Pandemie haben sich die Chancen von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert. Ein Gespräch über Barrieren mit Jürgen Dusel, Beauftragter der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen.
Herr Dusel, nach Angaben der Aktion Mensch liegt das Niveau der Inklusion auf dem Arbeitsmarkt auf dem Stand von 2016. Vor Corona hatte sich die Lage verbessert, aber in der Pandemie wurden die erreichten Fortschritte wieder verloren. Was sind für Menschen mit Behinderungen die größten Barrieren bei der Arbeitssuche?
DUSEL: Schon vor der Pandemie konnten sich viele Menschen mit Behinderungen nicht als selbstständige Kundinnen und Kunden auf dem Arbeitsmarkt bewegen und waren struktureller Benachteiligung ausgesetzt. Das zeigen eindeutig die Arbeitslosenzahlen schwerbehinderter Menschen. Diese Entwicklung hat sich in der Pandemie leider noch verstärkt.
Hinzu kommt, dass Menschen mit Behinderungen systematisch weniger von Aufschwüngen am Arbeitsmarkt profitieren, sie werden häufig erst ganz zum Schluss eingestellt. Deswegen sinken die Arbeitslosenzahlen nicht so schnell wie bei Menschen ohne Behinderungen. Die Folge ist auch eine größere Gefahr von Langzeitarbeitslosigkeit, besonders im Alter von über 50 Jahren.
Die größte Barriere ist aus meiner Sicht immer noch, dass viele Unternehmen glauben, Menschen mit Behinderungen seien Fachkräfte zweiter Klasse. Das ist absolut nicht zutreffend. Hinzu kommen noch allgemeine, alltägliche Probleme mit der Barrierefreiheit, die die Arbeitssuche erschweren: nicht barrierefreie Internetseiten zum Beispiel, fehlende Informationen in Gebärdensprache oder auch in Einfacher Sprache. Fehlende bauliche Barrierefreiheit an vielen Orten im öffentlichen Raum und natürlich in den Unternehmen.
Welche Schritte müssten unternommen werden, um die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt nachhaltig zu verbessern?
Wir brauchen vermehrte Anstrengungen auf dem Arbeitsmarkt, damit Menschen mit Behinderungen die Chance erhalten, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Insbesondere die Langzeitarbeitslosen müssen wir in den Blick nehmen.
Gut ist, dass durch das Teilhabestärkungsgesetz ab diesem Jahr flächendeckend Ansprechstellen für Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen eingerichtet werden. Denn oftmals ist es ja kein böser Wille, der Unternehmen von Einstellungen abhält. Sie brauchen Fachkräfte und suchen diese händeringend. Herauszufinden, welche Unterstützungs- und Fördermöglichkeiten es gibt, wenn ich einen Arbeitnehmer oder eine Arbeitnehmerin mit Behinderung einstellen möchte, ist aber nicht immer leicht. Da braucht es transparente und verlässliche Strukturen. Wir werden sehen, wie sich diese neuen Stellen dann in der Praxis bewähren.
Außerdem muss aber für diejenigen beschäftigungspflichtigen Unternehmen, die wirklich keinen einzigen Menschen mit Behinderung einstellen, die Ausgleichsabgabe erhöht und eine vierte Stufe eingeführt werden. Ich bin der festen Überzeugung: Es gibt keinen einzigen Arbeitsplatz, der nicht von einem Menschen mit Behinderung gut besetzt werden kann, wenn sie oder er die richtige Unterstützung hat.
Die Einschränkungen durch die Corona-Pandemie haben Menschen mit Behinderungen oft besonders hart getroffen. Was waren die größten Probleme? Warum ist das Homeoffice offenbar keine Unterstützung?
Das ist so pauschal nicht ganz richtig. Das Homeoffice kann eine große Unterstützung sein, gerade wenn man daran denkt, dass mühsame Arbeitswege in häufig nicht barrierefreien öffentlichen Verkehrsmitteln wegfallen. Oder denken wir an vulnerable Gruppen, für die der Weg zur Arbeit immer das Risiko einer Ansteckung birgt.
Genau wie alle anderen profitieren auch Menschen mit Behinderungen vom Homeoffice. Wichtig ist nur, dass die technische Ausstattung zu Hause dann genauso barrierefrei ist. Oder Programme und Anwendungen: Zu Beginn der Pandemie gab es beispielsweise Probleme mit Videokonferenz-Tools, die für Gehörlose faktisch nicht nutzbar waren.
Ein Problem kann Homeoffice werden, wenn dadurch mehr soziale Isolation entsteht. Die häufigsten sozialen Kontakte finden nun mal meistens am Arbeitsplatz statt. Im schlimmsten Fall kann Homeoffice für Menschen mit Behinderungen dazu führen, dass Arbeitgeber und Arbeitgeberinnen vielleicht gar nicht mehr die Notwendigkeit sehen, Arbeitsplätze vor Ort barrierefrei zu gestalten. Das wäre natürlich eine völlig falsche Entwicklung. Oder denken wir an die Menschen in den Werkstätten für behinderte Menschen, die in den meisten Fällen nicht einfach in das Homeoffice wechseln können.
Wie bei allen anderen Beschäftigten gilt: Homeoffice soll eine Möglichkeit sein, gute Arbeit zu leisten und dennoch Privates mit Beruflichem gut zu vereinbaren. Das „Wie“ und „Ob“ dürfen nicht an den Beschäftigten vorbei entschieden werden. Gleichzeitig braucht es die entsprechende Ausstattung und wir müssen von Beginn an schon in der Schule dafür sorgen, dass Menschen die Befähigung erhalten, mit digitaler Hard- und Software umzugehen.
Seit dem 1. Januar 2022 ist das Teilhabestärkungsgesetz in Kraft. Welche Verbesserungen ergeben sich daraus für Menschen mit Behinderungen?
Einige Regelungen des Teilhabestärkungsgesetzes sind auch schon zum 1. Juli 2021 in Kraft getreten. Ein paar der Neuregelungen sind: Das Behindertengleichstellungsgesetz wird um Neuregelungen zu Assistenzhunden erweitert, das Budget für Ausbildung wird auf den Arbeitsbereich der Werkstätten ausgeweitet und die Ausbildungsvergütung in voller Höhe übernommen. Außerdem soll es eine bessere Betreuung von Rehabilitanden und Rehabilitandinnen in Jobcentern geben.
Sie haben bereits eine Legislaturperiode als Beauftragter hinter sich, die zweite hat gerade begonnen. Welche Themen stehen in den kommenden Jahren für Sie ganz oben auf der Agenda?
Ich möchte mich insbesondere mit den Themen barrierefreie Mobilität und barrierefreies Bauen auseinandersetzen. Ein weiterer wichtiger Schwerpunkt wird der gesamte Themenkomplex barrierefreies Gesundheitssystem sein. Eine Herzensangelegenheit ist mir die Situation der Familien, in denen chronisch kranke und schwerstbehinderte Kinder leben – für diese Familien braucht es deutliche Verbesserungen, die den Lebensalltag erleichtern. Annehmen möchte ich mich auch des Themas Gewaltschutz, insbesondere in den Einrichtungen der Behindertenhilfe. Und last, but not least, das Thema Arbeitsmarkt. Denn der Arbeitsmarkt ist und bleibt einer der wichtigsten Schlüssel zu mehr Inklusion.
Das Interview führte Elke Biesel