„Die Vorschrift ist ein lebendiges Instrument der Zusammenarbeit“
Das Ehrenamt hat bei der Neukonzeption der DGUV Vorschrift 2 eng zusammengearbeitet. Welche Verbesserungen wurden erzielt und an welchen Stellen gibt es weiter Handlungsbedarf? Diese Fragen beleuchtet das Interview aus verschiedenen Blickwinkeln.
Frau Osing, was sind die wesentlichen Verbesserungen der neuen DGUV Vorschrift 2 aus Sicht der Arbeitgeber? Was bedeutet das für die Arbeitgeber?
Osing: Die Überarbeitung der DGUV Vorschrift 2 stand für die Arbeitgeberseite unter der Überschrift, wie wir möglichst effizient und effektiv mit den bestehenden Ressourcen bei den Betriebsärztinnen und Betriebsärzten sowie Fachkräften für Arbeitssicherheit, kurz: Sifa, im Rahmen der Vorschrift 2 umgehen können. Wir haben an verschiedenen Stellschrauben gedreht, um insbesondere dem bestehenden Betriebsärztemangel zu begegnen. Wichtige Änderungen waren hierbei: die Einbeziehung weiterer Professionen in die Ausbildung zur Sifa und in die betriebsspezifische Betreuung, die Ausweitung der Kleinbetriebsmodelle auf bis zu 20 Beschäftigte, der Wegfall der 40-Prozent-Regel bei den Mindestanteilen von Sifa und Betriebsarzt oder Betriebsärztin sowie die Nutzung von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien in der betrieblichen Betreuung.
Aber wir dürfen an dieser Stelle nicht stehen bleiben. Wir wollen sowohl innerhalb als auch außerhalb der DGUV Vorschrift 2 weiterhin schauen, wie dem Betriebsärztemangel wirksam begegnet werden kann und wie wir eine möglichst gute betriebsärztliche und sicherheitstechnische Betreuung über alle Betriebsgrößen hinweg erreichen können.
Frau Willnecker, was sind die wesentlichen Verbesserungen der neuen DGUV Vorschrift 2 aus Sicht der Versicherten? Was bedeutet das für die Beschäftigten in den Betrieben?
Willnecker: Die Vorschrift wird übersichtlicher und die Umsetzung leichter. Dadurch kann auch die Mitbestimmung besser wahrgenommen werden. Außerdem ist eine gute Vorarbeit für die Umsetzung der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen geleistet worden, die in den Betrieben und Einrichtungen unter den gegebenen Bedingungen nur zögerlich erfolgt. Nun kann das von anderen Professionen besser begleitet werden. Das sollte Schwung in die Sache bringen. Gut finde ich auch, dass die Rahmenbedingungen für die Digitalisierung des Arbeitsschutzes gut beschrieben werden: Zunächst ist die Arbeit der Betriebsärztinnen und Betriebsärzte sowie der Fachkräfte für Arbeitssicherheit in Präsenz zu erbringen. Nur wenn sie die betrieblichen Gegebenheiten gut kennen, können sie ihre Leistungen auch digital wahrnehmen. Dies ist nach der Coronapandemie eine wichtige Klärung, dass der Arbeitsschutz vornehmlich vor Ort stattzufinden hat. Für die Beschäftigten bedeutet es, dass die Arbeit sicherer und gesünder werden kann. Da gibt es noch genügend Nachholbedarf.

Frau Osing, Frau Willnecker, welche Aspekte sollten in Zukunft noch einmal angeschaut werden, beispielsweise auf Grundlage einer Evaluation?
Osing: Wir haben im Rahmen des Überarbeitungsprozesses verschiedene Themen zurückgestellt: Arbeitgeberseitig möchten wir noch das Thema Degressionsregelung[1] angehen. Diese ist bei der vorletzten Überarbeitung der DGUV Vorschrift 2 entfallen. Das hat bei großen Unternehmen zu unbefriedigenden Ergebnissen geführt. Auch wollen wir das Thema Anreizsysteme näher beleuchten. Da sehen wir zum Beispiel die Möglichkeit, dass Unternehmen, die ein Arbeitsschutzmanagementsystem haben, bei den Anforderungen der DGUV Vorschrift 2 entlastet werden. Außerdem haben wir jetzt erstmals in der Vorschrift die Nutzung digitaler Informations- und Kommunikationstechnologien behandelt. Hier ist der Fortschritt rasant und die Anwendungsfelder werden größer werden. Das müssen wir im Auge behalten und weiteren Fortschritt für die betriebliche Betreuung nutzen. Wichtig ist auch, dass wir angesichts des bestehenden Betriebsärztemangels, der vermutlich nicht geringer wird, eine Ausnahmeregelung für Unternehmen, die keinen Betriebsarzt, keine Betriebsärztin oder keine Sifa finden, in die DGUV Vorschrift 2 aufnehmen. Es darf nicht sein, dass die Vorschrift von den Betrieben Sachen verlangt, die sie nicht erfüllen können.

Willnecker: Die Aktualisierung ist notwendig geworden, da die bisherige Vorschrift teilweise zu Missverständnissen führte, in der Umsetzung zu kompliziert war und insbesondere in Kleinbetrieben gar nicht bekannt war. Da wäre es spannend zu erfahren, ob sich das verbessert. Gleichzeitig ist es interessant zu wissen, ob die Beratung über spezielle Fachthemen durch Personen mit spezieller Fachkompetenz auch genutzt wird. Immerhin sollen diese Personen die Betriebsärztinnen und Betriebsärzte sowie Fachkräfte für Arbeitssicherheit nicht nur unterstützen, sondern auch entlasten. Die Einführung der Telearbeitsmedizin beziehungsweise Telearbeitssicherheit wird eine Herausforderung für die Betriebe und Einrichtungen werden. Danach ist darauf zu achten, dass die Einsätze sinnvoll genutzt und die Rahmenbedingungen eingehalten werden. Auch wird sich zeigen, ob die arbeitsmedizinische Betreuung durch die Senkung der Einsatzzeiten bei den Betrieben in der Betreuungsgruppe III von 40 Prozent auf mindestens 20 Prozent ausreichend zu gewährleisten ist.
Frau Osing, Frau Willnecker, was ist aus Ihrer Sicht entscheidend, damit die neue DGUV Vorschrift 2 in der betrieblichen Praxis ankommt?
Willnecker: Die Vorschrift ist jetzt verständlicher und soll die Umsetzung vor Ort erleichtern. Dadurch kann eine neue Dynamik bei der Durchführung in den Betrieben und Einrichtungen entstehen. Die Vorschrift ist ein lebendiges Instrument der Zusammenarbeit. Jetzt gilt es, die Vorschrift bekannt zu machen. Das sollte aufseiten der Unfallversicherungsträger, des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und der Länder, aber auch der Arbeitgeber- und der Interessenvertretungen gut kommuniziert werden. Im Rahmen der Betriebsbesuche und aller entstehender Schulungsmaßnahmen sollten alle Beteiligten konkret angeleitet werden, wie dieses gute Instrument zum Klingen gebracht werden kann.
Osing: Insbesondere die Unfallversicherungsträger sollten in einfacher Art und Weise die bei ihnen versicherten Unternehmen darauf hinweisen, welche erweiterten Möglichkeiten und Verbesserungen die DGUV Vorschrift 2 für die Betriebe bietet. Hier denke ich vor allem an die Ausweitung der Kleinstbetriebsbetreuung. Jetzt können insbesondere Kleinunternehmen bis zu 20 Beschäftigten auch von den Angeboten der Kompetenzzentren profitieren. Durch die Anhebung des Schwellenwertes wird kleinen Betrieben nun die Möglichkeit gegeben, sich auf die wesentlichen Punkte der betrieblichen Betreuung zu fokussieren, nämlich die Erstellung und Aktualisierung der Gefährdungsbeurteilung sowie die anlassbezogene Betreuung. Auch Informationen zu den neuen Möglichkeiten der digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien, hier insbesondere der Telemedizin, sind für mich von besonderer Wichtigkeit.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dr. Ljuba Günther.