Wo das Risiko am höchsten ist, da sind wir vor Ort

Bei der Überwachung und Beratung von Betrieben gehört die bedarfs- und risikoorientierte Auswahl zu den Grundfesten der Arbeit der Unfallversicherungsträger. Welche Rolle spielt dabei der über die Jahre gesammelte Erfahrungsschatz der Berufsgenossenschaften und wie kann der Einsatz von künstlicher Intelligenz helfen? 

Wo das Risiko am höchsten ist, da sind wir vor Ort – nach diesem Grundsatz gestaltet die Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) die Auswahl der Betriebe, die vor Ort besichtigt werden. Erkennbar wird das Risiko durch Kennzahlen auf der Basis des Unfall- und Berufskrankheiten-(BK-)Geschehens und anderer Präventionsdaten.

Die Kenntnis über Risiken ist jedoch nur Mittel zum Zweck: Sie dient der Prävention; letztlich also dem Ableiten von Präventionsmaßnahmen zur Verhütung von Unfällen und Berufskrankheiten. Deswegen kommt der Kenntnis über konkrete Gefährdungsschwerpunkte und über technologische Entwicklungen eine besondere Bedeutung zu – angefangen bei der Industrialisierung bis hin zu den Auswirkungen des Klimawandels sowie über branchentypische Tätigkeiten und Arbeitsplatzgestaltungen.Die Verzahnung von Risikoprognose und (Erfahrungs-)Wissen des Aufsichtspersonals ist dabei besonders Erfolg versprechend.

Risikoorientierung hat Tradition in der Unfallversicherung

Allein der Gefahrtarif und die Beitragsgestaltung sind Ausdruck der Kenntnis über und der Berücksichtigung von branchen- und betriebsspezifischen Besonderheiten. Das Risiko, durch die berufliche Tätigkeit einen Unfall zu erleiden oder beruflich bedingt zu erkranken, spiegelt sich in der Höhe des Beitrags eines Unternehmens wider – aber auch eine besondere Häufigkeit von Versicherungsfällen in einzelnen Betrieben findet Berücksichtigung.

Unfallverhütung als Gemeinschaftsaufgabe

Jeder Unfall und jede Erkrankung bringt menschliches Leid mit sich und wirkt sich auf die betrieblichen Zusammenhänge aus. Daher hat die Unfallversicherung der Verhütung von Unfällen und Berufserkrankungen von Beginn an eine hohe Bedeutung beigemessen. Grundlage der gemeinsamen Bemühungen war und ist ein gleichartiges Umsetzen von Maßnahmen in allen der Gemeinschaft angehörenden Unternehmen.

Die Erfahrung zeigt, dass dafür ein „Hinschauen“ notwendig ist – eben die Überwachungsaufgabe der Unfallversicherungsträger, die durch die Aufsichtspersonen (AP) bei ihren Betriebsbesichtigungen wahrgenommen wird und sich auch in der Beratung zu geeigneten Maßnahmen bei der sicheren Gestaltung von Maschinen und Arbeitsprozessen äußert.

Der Einsatz der Aufsichtspersonen vor Ort ist dabei in vielfacher Hinsicht sehr wertvoll: Der besichtigte Mitgliedsbetrieb erhält Unterstützung für das Erreichen eines Präventionserfolgs und die BG ETEM gewinnt Erkenntnisse, die für die Allgemeinprävention gewinnbringend eingesetzt werden können. Dabei kann die BG ETEM mit den nur begrenzt zur Verfügung stehenden Ressourcen des Aufsichtspersonals schonend umgehen. Betriebsbesichtigungen als eine der zehn Präventionsleistungen der BG ETEM sollen demnach vor allem dann zum Einsatz kommen, wenn das Risiko des Betriebs als hoch eingeschätzt wird.

Werkzeuge der Aufsichtspersonen

Zur bedarfs- und risikoorientierten Auswahl hat die Aufsichtsperson bei der BG ETEM einen „Werkzeugkasten“ zur Hand, der sich aus unterschiedlichen Elementen zusammensetzt:

  • einer internen Handlungsanleitung zur Aufsichtstätigkeit, die auch eine Kriterienliste für die bedarfs- und risikoorientierte Auswahl enthält
  • einem digitalen Werkzeug (Datenbank, „BG-MOTIS“), in dem die jeweiligen betriebsbezogenen Kriterien übersichtlich und transparent dargestellt sind: zum Beispiel Gefahrtarif, Eigenbelastung, Unfallgeschehen

Einsatzmöglichkeiten für künstliche Intelligenz

Das Risiko eines Betriebs bezüglich der Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit am Unfallgeschehen festzumachen, ist aus der Perspektive der Unfallversicherung naheliegend.

Durchschnittlich geschah im Jahr 2020 in etwa 7,5 Prozent der bei der BG ETEM versicherten Kleinbetriebe (1 bis 10 Vollarbeiter, etwa 125.000 versicherte Betriebe bei der BG ETEM in dieser Betriebsgröße) mindestens ein Unfall. Aufgrund der Vielzahl an Betrieben, gepaart mit den jeweils verfügbaren Informationen und Kontextfaktoren, besteht für das Aufsichtspersonal die große Herausforderung darin, Betriebe zu identifizieren, die besichtigt werden müssen oder sollen. Algorithmen zur Vorhersage von Schadensereignissen können dazu dienen, einzelne Kennzahlen aus verschiedenen Quellen miteinander in Bezug zu setzen. Das sind vor allem:

  • Präventionsdaten (zum Beispiel Berichts-, Seminar- und Unfallverschlüsselungsdaten)
  • Mitglieder- und Beitragsdaten (beispielsweise Lohnnachweise) sowie
  • Reha-Managementdaten (zum Beispiel AU-Zeiten, Unfallfolgen)

Diese Kennzahlen dienen als Orientierungshilfe für das Aufsichtspersonal, um zu einer Gesamtaussage, zum Beispiel zur Einschätzung einer zukünftigen Unfalltendenz der Betriebe, zu kommen. Damit ist das bisherige händische Zusammenführen und Interpretieren der Kennzahlen für eine Risikoeigenschaft durch das Aufsichtspersonal nicht mehr erforderlich. Der trainierte Algorithmus der BG ETEM lernt auf der Basis von mehr als 100 Merkmalen die Schätzung der Wahrscheinlichkeit für bevorstehende Arbeitsunfälle in den Betrieben bis zehn Vollarbeiter für das Folgejahr. Dabei werden historische Muster und Zusammenhänge gesucht und erkannt, um die Prognosen abzusichern. Ein besonderer Fokus bei der Modellierung liegt hier auf der Berechnung der Hauptmerkmalswerte, die die Prognose beeinflussen. Diese geben an, in welchem Ausmaß und in welcher Wirkrichtung die Prognose durch die jeweiligen Merkmale beeinflusst wird. Dabei wird auf die Nachvollziehbarkeit der Prognosen in besonderem Maße Wert gelegt. Durch die Darstellung der Hauptmerkmalswerte im digitalen Werkzeug „BG-MOTIS“ ist für das Aufsichtspersonal der BG ETEM transparent, welche Merkmale sich, bezogen auf einen bestimmten Betrieb, unter Anwendung einer mathematischen Methode belastend oder begünstigend für die Prognose ausgewirkt haben. Die Detailansicht der Merkmale dient allerdings nicht zur Ableitung konkreter betriebsbezogener Präventionsmaßnahmen. Diese müssen weiterhin während der Betriebsbesichtigung mit dem (Erfahrungs-)Wissen durch das Aufsichtspersonal erkannt werden.

Fazit

Von Anbeginn der Unfallversicherung an hat die Risikoorientierung eine Rolle gespielt. Über die Jahre wurden die Werkzeuge immer zielgenauer. Gute Beobachtungsgabe und der Blick für die mit technologischen Errungenschaften verbundenen neuen Gefährdungen sind wesentliche Elemente des Präventionserfolgs. Künstliche Intelligenz hilft dem Aufsichtspersonal, die eigenen Ressourcen in der Überwachung und Beratung von Betrieben verantwortungsvoll und sinnstiftend einzusetzen.