Psychische Störungen als Berufskrankheit? Ausblick auf zukünftige Herausforderungen

Die Zahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Störungen ist in den vergangenen 20 Jahren gestiegen. Neben verbesserter Diagnostik und größerer Akzeptanz für das Thema werden auch private Belastung sowie psychische Belastung bei der Arbeit als Ursachen diskutiert. Kann die Arbeitsbelastung im Einzelfall Ausgangspunkt für die Anerkennung einer Berufskrankheit sein?

Das biopsychosoziale Modell[1] erklärt die Entstehung von Krankheiten generell und so auch von psychischen Störungen wie Depression, Angst, Sucht und anderen. Es geht davon aus, dass körperliche, psychische, soziale und umweltbezogene Einflussgrößen in Wechselwirkung stehen und dadurch Gesundheit erhalten wird oder Erkrankungen entstehen. Bei den sozialen und umweltbezogenen Faktoren spielt die Arbeit neben anderen, wie der kindlichen Prägung und privaten Belastungsfaktoren, eine wichtige Rolle. Beschäftigte verbringen hier große Teile ihrer Zeit, nehmen bestimmte Rollen ein und arbeiten in eigenen sozialen Kontexten. Daher wird diskutiert, ob und gegebenenfalls welche psychische Belastung bei der Arbeit im Einzelfall die Entstehung einer psychischen Erkrankung so entscheidend beeinflussen kann, dass die Bedingungen für eine Berufskrankheit erfüllt sind.

Forschung zur Arbeit als Ursache psychischer Störungen

Eine Zusammenfassung qualitativ hochwertiger Fallkontrollstudien, Kohorten- oder Langzeitstudien von mehr als einer Forschungsgruppe bieten Rau et al.[2], die zeigen konnten, dass beispielsweise ein geringer Handlungsspielraum, eine hohe Arbeitsintensität, die Kombination beider (Job Strain), Arbeitsplatzunsicherheit, ein Mangel an sozialer Unterstützung, das Missverhältnis von Aufwand und Anerkennung (Effort-Reward-Imbalance) und Mobbing zu negativer Beanspruchung führen und das Risiko für Depression und auch Angststörungen erhöhen.

Seidler et al.[3] haben ein systematisches Review mit Metaanalyse erstellt, in dem Kohortenstudien, Fallkohortenstudien, Fallkontrollstudien und Mortalitätsstudien mit einer Follow-up-Zeit von mehr als einem Jahr und der Angabe von Effektschätzern des relativen Erkrankungsrisikos berücksichtigt wurden. Ausgeschlossen waren Querschnittsstudien, Fallserien und Einzelfallstudien. Hier zeigte sich ebenfalls ein deutlicher Zusammenhang zwischen einigen der bereits benannten Situationen und Depression sowie Angststörungen.

Trotz dieser empirischen Hinweise kann ein kausaler Zusammenhang zwischen einzelnen psychischen Belastungsfaktoren und psychischen Störungen weiterhin allein nach diesem Review nicht als gesichert gelten. Rugulies et al.[4] kommen zu der Einschätzung, dass „derartige Schlussfolgerungen erst gezogen werden können, wenn weitere Forschungsergebnisse mit einem stärkeren Bezug zu theoretischen Modellen vorliegen. Außerdem muss die Analyse der Belastungsfaktoren sowie das Verständnis der komplexen biopsychosozialen Zusammenhänge und dort vor allem der gesamtgesellschaftlichen Einflussfaktoren verbessert werden“. Erforderlich ist dafür auch eine noch stärkere Konzentration auf Kohorten-, Fallkontroll- und generell Langzeitstudien.

Anerkennungsvoraussetzungen

Berufskrankheiten sind Erkrankungen, die Versicherte durch ihre berufliche Tätigkeit erleiden und die in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV)[5], der sogenannten Berufskrankheitenliste, aufgeführt sind. Welche Erkrankungen in die Berufskrankheitenliste aufgenommen werden, entscheidet die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates. Sie lässt sich dabei vom Ärztlichen Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten (ÄSVB)[6] wissenschaftlich beraten. Kein psychisches Störungsbild wird bisher in dieser Berufskrankheitenliste aufgeführt.

Voraussetzung für eine Aufnahme in die sogenannte Berufskrankheitenliste wäre, dass bestimmte Personengruppen im Vergleich zur übrigen Bevölkerung nachweisbar besonders stark von einer spezifischen psychischen Belastung bei ihrer Tätigkeit betroffen sind. Weder für häufig diskutierte psychische Belastungen wie hohe Arbeitsintensität oder ein geringer Handlungsspielraum noch für wiederkehrende belastende Konfliktsituationen am Arbeitsplatz, die durch andere Personen verursacht werden, ist eine im Vergleich zur übrigen Bevölkerung übermäßige spezifische Belastung bestimmter Berufsgruppen aber bisher nachgewiesen worden.

In einem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) aus dem Juni 2023[7] wurde jedoch erstmals bestätigt, dass eine posttraumatische Belastungsstörung auf Grundlage mehrfacher Einwirkung traumatischer Erlebnisse bei der Arbeit von Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitätern grundsätzlich wie eine Berufskrankheit nach § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII anerkannt werden kann. Nach der Einschätzung des 2. Senats des BSG sind Rettungssanitäterinnen und Rettungssanitäter während ihrer Arbeitszeit einem erhöhten Risiko der Konfrontation mit traumatisierenden Ereignissen im Sinne wissenschaftlicher Diagnose-Klassifikationssystemen (DSM V und ICD 10) ausgesetzt. Diese Einwirkungen kommen unabhängig vom konkreten Einzelfall abstrakt-generell nach dem Stand der Wissenschaft als Ursache einer posttraumatischen Belastungsstörung in Betracht.

Diese spezifische Fallkonstellation ist aber nach wie vor die einzige, bei der eine solche Anerkennung erfolgt ist. Daneben kommt aber die Anerkennung psychischer Traumen als Arbeitsunfall in Betracht.

Ausblick

Insgesamt lässt sich mit Blick auf psychische Erkrankungen im Arbeitskontext zusammenfassen, dass ohne weitere qualitativ hochwertige und kohortenspezifische Studien vorerst keine weiteren Anerkennungen anderer psychischer Erkrankungen im Rahmen des Berufskrankheitenrechts zu erwarten sind. Die DGUV und ihre Träger konzentrieren sich daher in diesem Feld primär auf ihren erweiterten Präventionsauftrag. Im Rahmen der Überwachung und Beratung durch die Aufsichtsdienste wird vor allem darauf geachtet, dass psychische Belastungsfaktoren in den Unternehmen im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung erhoben und gegebenenfalls wirksame Maßnahmen umgesetzt werden. Dadurch kann das Risiko für psychische Erkrankungen sowie für Unfälle im Arbeitskontext signifikant verringert werden. Auch die Leistungsfähigkeit und Zufriedenheit von Beschäftigten werden so nachhaltig gefördert.