Globale Lieferketten: Eckpunkte des VISION ZERO-Projekts der IVSS Sektion Handel

Globale Lieferketten rücken mehr und mehr in den Fokus der kritischen Betrachtung. Der Ruf nach sicheren, sozial gerechten und zugleich nachhaltigen Lieferketten wird stetig lauter. Wie kann das Vision Zero-Projekt der IVSS Sektion Handel (ISSA Handel) hierbei Anleitung geben und allen Beteiligten effektive Hilfe leisten?

Die Vielzahl aktueller Entwicklungen, zum Beispiel Digitalisierung, informelle oder Plattformarbeit, Pandemie, Migrationsdruck, Klimawandel, Freihandelsabkommen und die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, führen zu einer zunehmenden Fokussierung auf die Themen Nachhaltigkeit, menschenwürdige Arbeit und soziale Sicherheit – auch entlang globaler Lieferketten in allen Wirtschaftssektoren einer vernetzten Welt. Dies hat zur Folge, dass die Sensibilität von Unternehmen, Kundinnen und Kunden steigt und politische Initiativen und Gesetzgebung diskutiert werden.

In diesem Umfeld befasst sich derzeit ein Projekt der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) mit der Entwicklung eines global einsetzbaren Werkzeugs zur Erfassung, Bewertung und Weiterentwicklung von Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden der Beschäftigten entlang der Lieferketten. An dem Projekt beteiligt sich das gesamte Präventionsnetzwerk der IVSS. Die Federführung liegt bei der Internationalen Sektion für Prävention in Handel, Güterlogistik und Hafenumschlag (IVSS Handel).

Der Leitfaden, der im Rahmen dieses Projekts erarbeitet wird, steht kurz vor dem Abschluss – daher sollen hier die Grundzüge des Leitfadens vorgestellt werden.

Das Projekt „Improving Safety, Health and Wellbeing at Workplaces along Global Supply Chains by VISION ZERO“ will auf Basis der Vision Zero-Strategie einen Weg beschreiben, um die Einhaltung der Mindestkriterien an den entscheidenden Punkten der Lieferkette zu ermitteln, Defizite zu erkennen und einen nachhaltigen Kommunikations- und Optimierungsprozess zwischen den Partnern, die Entwicklung einer Vertrauensbasis und hierdurch die Zusammenarbeit zu fördern.

Projektrahmen und Idee

Das neue Werkzeug soll unabhängig von nationaler Gesetzgebung grenzüberschreitend einsetzbar sein. Das Projekt wird von einer internationalen Arbeitsgruppe von Forschenden aus dem finnischen Institut für Gesundheit bei der Arbeit (FIOH) durchgeführt. Beteiligt ist auch Prof. Gerard Zwetsloot aus den Niederlanden. Industrie und alle interessierten Gruppen wurde die Möglichkeit eingeräumt, sich mit Kommentaren und Feedback in das Projekt einzubringen.

Ausgehend von der Annahme, dass alle Unternehmen grundsätzlich Verantwortung für ihr Handeln tragen, wird in der aktuellen Diskussion gefordert, die Verantwortung für die jeweiligen Lieferbeziehungen einzubeziehen, um weltweit faire Wettbewerbsbedingungen zu schaffen. Über die Lieferketten sind Unternehmen aus unterschiedlichen Wirtschaftszweigen, aus unterschiedlichen Regionen der Welt, unterschiedlicher Größe und mit unterschiedlichen Arbeitsschutzniveaus miteinander verbunden. Der Blick reicht jedoch zumeist nur bis zur nächsten „Lieferantenebene“ – dahinter befindet sich oft ein „schwarzes Loch“.

Charakteristisch für die Organisation der Lieferbeziehungen sind äußerst komplexe und immer stärker fragmentierte Lieferketten, die längst den gesamten Globus sowie zahlreiche unterschiedliche Zwischenebenen umspannen – angefangen bei der Rohstoffgewinnung oder den landwirtschaftlichen Erzeugungsprozessen über die Verarbeitungsprozesse und den Transport bis hin zum Verkauf an die Endverbrauchenden (siehe Abbildung 1).

Abbildung 1: Lieferketten  | © Ehnes/Roth
Abbildung 1: Lieferketten ©Ehnes/Roth

Das Ziel des Projekts ist also, ein Werkzeug zur Verfügung zu stellen, mit dem es gelingt, Licht in dieses Dunkel zu bringen. Das Werkzeug muss länderübergreifend funktionieren, darf nicht im Widerspruch zu nationalen Gesetzgebungen stehen und muss einerseits das erforderliche Mindestniveau definieren, andererseits jedoch realistische Anforderungen stellen und alle Beteiligten zur Mitwirkung motivieren. Dies ist sicherlich ein anspruchsvolles Unterfangen, wenn man sich vor Augen führt, dass Lieferketten letztendlich in beliebiger Komplexität beschrieben werden können. Deshalb kann das kurz vor der Veröffentlichung stehende Projektergebnis sicher nur ein erster Schritt sein. Seine Hauptzielsetzung ist es, ein Grundkonzept zu etablieren. In weiteren Schritten sollen später branchenspezifische Anforderungen und weitere Themenbereiche „angedockt“ werden.

Projektziele und Eckpunkte

Als vorrangige Projektziele wurden definiert:

  • die Verbesserung von Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden (mentale Gesundheit) in globalen Lieferbeziehungen und entlang der Lieferketten
  • die Förderung der Nachhaltigkeit von wirtschaftlichen Aktivitäten
  • die Bereitstellung einer gemeinsamen guten Praxis für Nachhaltigkeit von Handelsbeziehungen und Lieferketten
  • die Entwicklung praxisnaher Instrumente für die Industrie
  • die Nutzung wirtschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Lieferanten und Partnerinnen und Partner in den Lieferketten (Business-to-Business) zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen
  • die Bereitstellung transparenter Informationen für Gesellschaft, Kundinnen und Kunden

Um diese Ziele zu erreichen, wurden im Rahmen des Projekts die folgenden Eckpunkte definiert:

  • Der Leitfaden für nachhaltige Lieferketten baut auf der Vision Zero-Strategie auf.
  • Die „7 Goldenen Regeln“ werden an die Lieferkettenthematik angepasst.
  • Soziale Verantwortung: Grundsätzlich ist jedes Unternehmen für den Arbeitsschutz und für die Einhaltung der Grundrechte und Kernarbeitsnormen selbst verantwortlich.
  • Der Begriff „Sicherheit.Gesundheit.Wohlbefinden PLUS (SGW+)“ definiert das Mindestniveau, das an jedem Punkt der Lieferkette erreicht werden soll.
  • Zur Umsetzung des Leitfadens wird ein 5-Stufen-Modell vorgeschlagen.
  • Der Leitfaden enthält Mustervorlagen und Checklisten.

Die beiden wichtigsten Checklisten des neuen Leitfadens, die mit seiner Veröffentlichung zur Verfügung stehen werden, sind:

  • Checkliste „7 Goldene Regeln für Lieferketten“: Sie dient den Unternehmen zur initiativen Selbstbewertung des Status quo im Umgang mit der Lieferkettenthematik im eigenen (proaktiven) Unternehmen.
  • Checkliste „SGW+ für Partnerunternehmen in Lieferketten“: Diese Checkliste hilft bei der Ermittlung des Status quo von SGW+ bei den (reaktiven) Partnerinnen und Partner in den Lieferketten.

Was verbirgt sich hinter SGW+?

Weil im Fokus der sensiblen Diskussion zu den Arbeitsbedingungen entlang der Lieferketten nicht allein die Elemente, die mit dem Grundrecht auf ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld in Verbindung stehen (also die klassischen Arbeitsschutzthemen), betrachtet werden müssen, sondern auch die Einhaltung der grundlegenden Prinzipien und Menschenrechte bei der Arbeit (ILO-Kernarbeitsnormen) hinterfragt werden müssen, wurde der neue Begriff SGW+ eingeführt. Das Pluszeichen steht für die Themen: Kinderarbeit, Zwangsarbeit, lange Arbeitszeiten, Versammlungsfreiheit, Diskriminierung und Entlohnung (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Elemente der SGW+  | © Ehnes/Roth
Abbildung 2: Elemente der SGW+ ©Ehnes/Roth

Das 5-Stufen-Modell

Der Leitfaden empfiehlt fünf Schritte, um sich der Lieferkettenthematik Schritt für Schritt anzunähern (siehe Abbildung 3):

In Stufe 1 wird ein Unternehmen, das selbst auch Teil einer oder mehrerer Lieferketten ist, zu der Erkenntnis gelangen, dass es erforderlich und lohnend ist, sich mit den eigenen Lieferketten zu befassen. Dabei kann es sich um ein beliebiges Unternehmen an jedem Punkt der Lieferkette oder des Lieferkettennetzes handeln – wahrscheinlich ist aber, dass es das Unternehmen sein wird, das neue Produkte auf den Markt bringen will und den kritischen Nachfragen der Käuferinnen und Käufer gegenübersteht. Der Anfang ist gemacht.

Abbildung 3: 5-Stufen-Modell zur Verbesserung von SGW+ in Lieferketten  | © Ehnes/Roth
Abbildung 3: 5-Stufen-Modell zur Verbesserung von SGW+ in Lieferketten ©Ehnes/Roth

In Stufe 2 wird diesem initiativ werdenden (proaktiven) Unternehmen vorgeschlagen, die eigene Situation, den eigenen Umgang und den Kenntnisstand zu den eigenen Lieferketten unter Verwendung der Checkliste „7 Goldene Regeln für Lieferketten“ zu ermitteln und zu bewerten. Diese Checkliste dient nicht nur der Status-quo-Erhebung, sondern auch der Selbstmotivation und Inspiration.

In Stufe 3 soll dann festgelegt werden, welche die wichtigsten (kritischen) Kooperationsunternehmen in den Lieferketten sind. Es ist ratsam, nicht von Anfang an eine 100-Prozent-Abdeckung der Lieferkette anzustreben, sondern sich zunächst wenigen bedeutsamen Unternehmen zu widmen. Die Auswahl kann nach verschiedenen Gesichtspunkten erfolgen: Anteil am Produkt, Wahrscheinlichkeit von Risiken, exklusiver Lieferkettenkooperationen. Unternehmen, die am Beginn der Lieferketten stehen (Rohmateriallieferanten) sollten sicher bevorzugt einbezogen werden. Mit den ausgewählten Unternehmen soll nunmehr Kontakt aufgenommen und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit entwickelt werden. Um den aktuellen Status dieser Unternehmen zu hinterfragen, kann die Checkliste „SGW+ für Partnerunternehmen in Lieferketten“ genutzt werden. Es ist davon auszugehen, dass sich aus der Erstbestandsaufnahme direkt Ansatzpunkte zur Kritik und Verbesserung ergeben.

In Stufe 4 soll dann die Bereitschaft zur Zusammenarbeit entwickelt werden. Ziel ist es nicht, Lieferanten, die Defizite offenbaren, zu ersetzen, sondern an einer Beziehung zu arbeiten, die über die bloße Auftragsabwicklung hinausreicht. Es muss angestrebt werden, eine echte partnerschaftliche Gemeinschaft zu entwickeln – denn nur miteinander wird man Vertrauen entwickeln und nachhaltige Verbesserungen erzielen können. Erste Kooperationsprojekte sind hilfreich – denn Erfolg schafft Vertrauen.

In Stufe 5 gilt es dann, auf der erzielten Vertrauensbasis zu einer nachhaltigen, dauerhaften Zusammenarbeit zu kommen, um den Reifegrad der „Schicksalsgemeinschaft Lieferkette“ kontinuierlich zu verbessern. Gleichzeitig kann man jetzt daran denken, weitere Partnerfirmen einzubeziehen.

Was spricht für diese Vorgehensweise?

Die im Rahmen des Projekts entwickelten Werkzeuge

  • sind international abgestimmt und können unabhängig von der nationalen Gesetzgebung weltweit eingesetzt werden;
  • können genutzt werden, um nachhaltige Lieferbeziehungen zu definieren und zu fördern;
  • können eingesetzt werden, um Nachhaltigkeitsanforderungen entlang globaler Lieferketten umzusetzen und zu dokumentieren;
  • ermöglichen eine Risikobewertung und Schwachstellenermittlung entlang Lieferketten;
  • können genutzt werden, um Verbesserungsmaßnahmen zu identifizieren, zu konzipieren und auszuwählen;
  • ermöglichen es, den Reifegrad von Lieferketten durch Anwendung der „7 Goldenen Regeln“ und 14 proaktiven Frühindikatoren von Vision Zero zu ermitteln;
  • können dazu genutzt werden, die Ergebnisse intern oder extern zu benchmarken.

Der Leitfaden einschließlich aller Checklisten wird offiziell im Rahmen des 23. Weltkongresses für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit 2023, der vom 27. bis zum 30. November 2023 in Sydney/Australien vorgestellt und kann dann unter https://visionzero.global/ heruntergeladen werden. Unternehmen, die an einer Erprobung des Instrumentariums interessiert sind, können sich bereits vorab an den Autor und die Autorin wenden.