Internationales Engagement für nachhaltige Lieferketten

Wie anfällig die internationale Staatengemeinschaft und die Weltwirtschaft gegenüber plötzlich auftretenden Gefahren sind, hat uns die Corona-Pandemie drastisch vor Augen geführt. Die Just-in-time-Produktion der Industrie ist einer der Gründe dafür. Die Schaffung von sicheren und nachhaltigen Lieferketten wird aus diesem Grund immer wichtiger.

Globalisierung

Zahlreiche Unternehmen im Zuständigkeitsbereich der Unfallversicherungsträger agieren bereits seit Jahrzehnten über Ländergrenzen hinweg und haben Niederlassungen und Produktionsstätten im Ausland. Dieser Trend trifft nicht nur auf multinationale Konzerne zu, sondern gilt ebenso für mittelgroße und kleine Unternehmen. Kennzeichnend für globale Lieferbeziehungen ist deren Organisation durch äußerst komplexe, dynamische und immer stärker fragmentierte Lieferketten, die den gesamten Globus umspannen. Dies betrifft alle Wirtschaftssektoren gleichermaßen – angefangen bei der Rohstoffgewinnung oder den landwirtschaftlichen Erzeugungsprozessen über zahlreiche Verarbeitungsprozesse und den Transport bis hin zum Verkauf an den Endverbraucher und die Endverbraucherin.

Was charakterisiert die Wirtschaftssektoren im Wesentlichen?

  • Es gibt eine sehr große Vielfalt an Branchen, Geschäftszweigen und Unternehmensformen mit ihren jeweils ganz spezifischen Risiken, bei denen letztlich jedes einzelne Unternehmen unter dem Einfluss der Globalisierung steht.
  • Es herrscht ein sehr starker Wettbewerb, insbesondere unter den Lieferanten, der von enormem Zeitdruck gepaart mit aggressiver Preispolitik geprägt ist.
  • Eine mangelnde Kenntnis der jeweiligen Arbeitsschutzvorschriften ist weitverbreitet.
  • Vorhandene Gefahren werden oftmals unterschätzt, was sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Branche in einem entsprechenden Unfall- und Krankheitsgeschehen niederschlägt.

Eine wesentliche Ursache für das Entstehen komplexer Lieferketten ist der immense Kostendruck. Da Einsparungspotenziale in erster Linie bei den Personalkosten und Arbeitsbedingungen gesehen werden, führt dies zu einer ständigen Verlagerung von Produktionsstätten. Dies setzt eine Abwärtsspirale in Gang, die im ungünstigsten Fall bis hin zur Verletzung von Arbeitsschutzbestimmungen und Menschenrechten reichen kann. In der Realität werden Unternehmen mit ungleichen lokalen Ausgangsvoraussetzungen konfrontiert, die sich in ebenso unterschiedlichen Niveaus von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit widerspiegeln, was für jedes Unternehmen eine sehr große Herausforderung darstellt. Bei genauerer Betrachtung ist hingegen festzustellen, dass zwar in nahezu allen Ländern grundsätzlich ähnliche Herausforderungen hinsichtlich der Umsetzung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit zu meistern sind, diese jedoch national ganz unterschiedlich gewichtet und angegangen werden. In diesem Gesamtgefüge kommt erschwerend hinzu, dass in allen Wirtschaftssektoren eine nicht unerhebliche Anzahl von Unternehmen die positive Wirkung des Arbeitsschutzes bislang unzureichend erkennt und deshalb der Arbeitsschutz im Allgemeinen oftmals als reine Zusatzaufgabe und nicht als sinnvolle Unterstützung der Betriebsabläufe verstanden wird.

Nachhaltige Lieferketten

Unstrittig ist, dass weltweit Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden bei der Arbeit nicht für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleichermaßen garantiert werden. In Zeiten der Pandemie hat sich gezeigt, dass unter schlechten Arbeitsbedingungen, bei denen grundlegende Anforderungen an Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit ignoriert werden, wesentlich mehr Menschen verunfallen und/oder erkranken. Im Extremfall führt dies gar zu Arbeitsunterbrechungen und sogar Betriebsschließungen mit all den weitreichenden Auswirkungen auf die Liefernetze – nicht zuletzt zu den bekannten weltweiten Lieferengpässen. Vor diesem Hintergrund wird der Ruf nach einem nachhaltig ausgerichteten unternehmerischen Handeln und einer angemessenen Beachtung des Arbeitsschutzes immer lauter.

Was ist unter dem Begriff Nachhaltigkeit zu verstehen? Im Alltagssprachgebrauch wird der Begriff oftmals unzureichend wiedergegeben. Er beschreibt ursprünglich ein Handlungsprinzip der Ressourcennutzung, heute umfasst er die drei Aspekte:

  • Ökologie
  • Ökonomie
  • Sozialstandards

An dieser Stelle sollen die Sozialstandards ganz besonders hervorgehoben werden, weil sie als grundlegende Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auf die Verbesserung der Situation der Beschäftigten abzielen. Sie umfassen explizit Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit. Die hohe Komplexität des Themas „nachhaltige Lieferketten“ lässt sich am Aspekt Arbeitsschutz recht gut veranschaulichen, denn aus Sicht der Unternehmen ist dieser Aspekt lediglich einer unter vielen. Künftig muss hier verstärkt bei der Priorisierung angesetzt werden, wenn der Arbeitsschutz nicht als bedeutungslos angesehen und hintangestellt werden soll.

Prävention lohnt sich – national wie international

In Deutschland werden Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit zum einen durch die rahmensetzenden staatlichen Arbeitsschutzbehörden und die Unfallversicherungsträger geprägt, zum anderen insbesondere durch die Umsetzung der Rechtsnormen und allgemeinen Anforderungen sowie Vorgaben in den jeweiligen Unternehmen und Einrichtungen. Die Berufsgenossenschaft Handel und Warenlogistik (BGHW) als die für die Unternehmen der Handelsbranche zuständige gesetzliche Unfallversicherung hat die primäre Aufgabe, ihre Mitgliedsunternehmen dabei zu unterstützen, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Belastungen und Erkrankungen zu vermeiden. Sollte trotz aller Präventionsbemühungen ein Unfall oder eine Berufskrankheit auftreten, gehört zu den berufsgenossenschaftlichen Aufgaben, die Rückkehr in das Arbeitsleben zu unterstützen und Betroffene gegebenenfalls auch finanziell zu entschädigen. Diese Aufgaben werden national umgesetzt, sind aber ebenso im internationalen Kontext von Bedeutung.

Eine der Auswirkungen der Globalisierung ist, dass auch die Versicherten der BGHW vermehrt in global agierenden, transnationalen Unternehmen tätig sind, wodurch das Thema Prävention längst kein rein nationales Thema mehr ist. Um Unternehmen optimal bei der Umsetzung des Arbeitsschutzes unterstützen zu können, ist es von großer Bedeutung, dass sich auch der jeweilige Unfallversicherungsträger mit der Globalisierung und den direkten Folgen für seine Mitgliedsunternehmen auseinandersetzt. Für die Branchen Handel und Warenlogistik bedeutet dies, dass sich die BGHW ebenfalls auf internationaler Ebene an einem wechselseitigen Austausch gängiger Praxis beteiligt. Auf diese Weise kann sie einerseits ihre branchenspezifische Expertise im Arbeitsschutz einbringen und andererseits erhält sie im Gegenzug vielfältige Impulse für die Weiterentwicklung der eigenen Präventionsarbeit. Dieser länderübergreifende Austausch ermöglicht, dass beispielsweise unterschiedliche nationale Regelungen und Erfahrungen als Best-Practice-Beispiele nicht nur international zugänglich und diskutiert werden, sondern darüber hinaus gemeinsame Mindeststandards für Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit erarbeitet werden. Über die Vereinbarung von gemeinsamen Mindeststandards können weltweit perspektivisch verbesserte Produktions- und Lieferbedingungen erzielt werden, was essenziell für die Gestaltung resilienter Lieferketten ist.

Internationale Vereinigung für Soziale Sicherheit

Spätestens mit dem im Sommer 2021 verabschiedeten und von Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen kontrovers diskutierten deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) wird deutlich, dass Arbeitsschutz über nationale Grenzen hinweg zu beachten ist. Bereits seit vielen Jahrzehnten arbeiten Berufsgenossenschaften und Unfallkassen der gesetzlichen Unfallversicherung in Deutschland mit der Internationalen Vereinigung für Soziale Sicherheit (IVSS) zusammen. Die 1927 gegründete und in Genf ansässige IVSS ist das weltweite Forum der Träger der Sozialversicherungen. Von Bedeutung für den Arbeitsschutz ist ihr „Besonderer Ausschuss für Prävention“, der sich in 14 branchen- beziehungsweise querschnittsorientierte Präventionssektionen untergliedert. Hier arbeiten Fachleute aus verschiedenen Ländern und von unterschiedlichen Organisationen eng zusammen, um gemeinsam zum Beispiel Fachinformationen, Forschungsergebnisse und Fachwissen zu sammeln und zur Verfügung zu stellen. Bis zum Jahr 2019 gab es trotz der wirtschaftlichen Bedeutung der Handelsbranche keine fachlich dem Handel gewidmete Präventionssektion. Dies hat die BGHW bewogen, die Gründung einer internationalen IVSS Sektion für Prävention in Handel, Warenlogistik und Hafenumschlag (Kurzform: IVSS Sektion Handel) vorzuschlagen. Auf ihrer Mitgliederversammlung im Juni 2019 nahm die IVSS diesen Vorschlag einstimmig an. Die Geschäftsstelle dieser jüngsten Präventionssektion ist bei der BGHW angesiedelt, weitere Informationen über die IVSS Sektion Handel können der Website (www.issa.int/prevention-trade) entnommen werden.

Im Zentrum der Sektionsarbeit stehen die globalen Lieferketten. Die IVSS Sektion Handel setzt sich für sichere und gesunde Lieferketten weltweit ein und ist der VISION ZERO Präventionsstrategie der IVSS verpflichtet. Sie möchte Impulse geben, vorhandene Liefernetze kritisch zu überdenken, ganzheitlich zu betrachten und sie im Sinne von Nachhaltigkeit weiterzuentwickeln. In diesem Kontext spielen weltweit sichere und gesunde Arbeitsbedingungen eine zentrale Rolle.

Mit ihrem Engagement leistet die IVSS Sektion Handel einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer den gesamten Globus umspannenden Präventionskultur.

Internationale VISION ZERO Präventionsstrategie

Bei der von der IVSS auf dem Weltkongress 2017 in Singapur proklamierten VISION ZERO Präventionsstrategie handelt es sich um einen international gültigen Präventionsansatz, der insbesondere die Vermeidung von arbeitsbedingten tödlichen sowie schweren Unfällen beziehungsweise Erkrankungen zum Ziel hat. Die Besonderheit des VISION ZERO Präventionsansatzes besteht darin, dass er die drei Dimensionen Sicherheit, Gesundheit und Wohlbefinden bei der Arbeit auf allen Ebenen integriert. Deren erfolgreiche Umsetzung geht einher mit dem Aufbau einer menschenzentrierten Präventionskultur.

Um die Anwendung in der Praxis möglichst einfach zu gestalten, wurden neben einem VISION ZERO Leitfaden[1], die Sieben Goldenen Regeln[2] sowie 14 Leitindikatoren[3] entwickelt.

Ausblick

Die Pandemie, aber auch politischer und gesellschaftlicher Druck haben uns den Handlungsbedarf und die Notwendigkeit für Veränderungen vergegenwärtigt. Wie können resiliente Lieferketten gestaltet werden? Welche Rolle spielen die rechtlichen Rahmenbedingungen, die Landeskultur und insbesondere der Arbeitsschutz? Welchen Einfluss hat die Unternehmensphilosophie?

Die IVSS Sektion Handel ist davon überzeugt, dass die aktuellen Herausforderungen nicht von einzelnen Ländern, Institutionen oder Unternehmen allein zu lösen sind, sondern nur gemeinsam und unter besonderer Beachtung von Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit – national ebenso wie global.

Unter der Federführung der IVSS Sektion Handel wird derzeit ein gemeinsames IVSS-Projekt bearbeitet, das sich mit der Fragestellung beschäftigt, wie globale Lieferketten durch Anwendung der VISION ZERO Strategie nachhaltiger gestaltet werden können. Hochgestecktes Ziel ist es, ein Instrument zu entwickeln, das die Bewertung des Arbeitsschutzes entlang der Lieferketten ermöglichen soll. Durch Anwendung der VISION ZERO sowie die Einbindung verschiedener Stakeholderinnen und Stakeholder soll ein möglichst praxistaugliches Instrument entwickelt werden. Angedacht ist, abgeleitet aus Best-Practice-Beispielen zunächst ein allgemeingültiges Instrument für Lieferketten zu entwickeln, das zu einem späteren Zeitpunkt um branchenspezifische Werkzeuge ergänzt werden soll.

Zwar hat Corona zu zeitlichen Verzögerungen geführt, doch mit ersten Zwischenergebnissen ist im laufenden Jahr zu rechnen.