Erste Erfahrungen mit Hüftgelenksarthrose als Berufskrankheit

Bei der Bewertung von Versicherungsfällen neuer Berufskrankheiten ergeben sich in der Regel eine Reihe offener Fragen und Unsicherheiten. So auch bei der neu in die Berufskrankheitenliste aufgenommenen Nummer 2116. Die bisherigen Erfahrungen der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU) werden mit dem Ziel der Ableitung von Umsetzungsvorschlägen dargestellt.

Zum 1. August 2021 trat die Fünfte Verordnung zur Änderung der Berufskrankheiten-Verordnung in Kraft.[1] Damit einher ging eine Erweiterung der Berufskrankheitenliste um die Nummer 2116: „Koxarthrose durch Lastenhandhabung mit einer kumulativen Dosis von mindestens 9.500 Tonnen während des Arbeitslebens gehandhabter Lasten mit einem Lastgewicht von mindestens 20 kg, die mindestens zehnmal pro Tag gehandhabt wurden.“ Bereits am 18. September 2019 hatte der Ärztliche Sachverständigenbeirat Berufskrankheiten beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) eine Empfehlung zur Aufnahme dieser Berufskrankheit (BK) ausgesprochen.[2] Diese Empfehlung und die dazu entwickelte Wissenschaftliche Begründung eröffnete den Unfallversicherungsträgern die Möglichkeit, beruflich verursachte Hüftgelenksarthrosen nach § 9 Abs. 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII „wie eine Berufskrankheit“ anzuerkennen. Lastenhandhabungen in Form von Heben oder Tragen von Lasten mit einem Lastgewicht von mindestens 20 Kilogramm sind im Baubereich weitverbreitet. Dementsprechend können die Versicherten der BG BAU als potenziell besonders gefährdete Personengruppe angesehen werden.

Beschäftige im Baubereich besonders betroffen

Eine Auswertung der bei der BG BAU eingegangenen BK-Verdachtsanzeigen im Zeitraum vom 25. März 2020 bis zum 31. März 2022 untermauert diese Vermutung. In dieser Zeit sind 493 Meldungen erstattet worden. Der größte Anteil dieser Meldungen entfällt dabei auf den Zeitraum ab dem 1. August 2021 und nimmt seitdem einen tendenziell steigenden Verlauf. Dementsprechend konnte in der Mehrzahl der Verdachtsfälle noch keine Entscheidung über das Vorliegen eines Versicherungsfalls getroffen werden. Bei den entschiedenen Fällen zeichnen sich sowohl bei den Anerkennungen als auch den Ablehnungen bereits erste Trends ab. Im Falle einer Anerkennung sind die resultierenden Funktionseinschränkungen in der Regel (in mehr als 70 Prozent der Fälle) so stark ausgeprägt, dass daraus eine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) resultiert. Dies ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Betroffenen überwiegend endoprothetisch mit neuen Hüftgelenken versorgt sind. Eine entsprechende Versorgung rechtfertigt nach den in der Literatur vertretenen Erfahrungswerten eine MdE von 20 Prozent oder mehr.[3] Im Anerkennungsfall sind zudem nahezu ausschließlich beide Hüftgelenke betroffen. Arthrotische Veränderungen im Sinne der Wissenschaftlichen Begründung, die ausschließlich ein Hüftgelenk betreffen, bilden die Ausnahme. Besonders auffällig ist, dass die geforderte Mindestbelastungsdosis von 9.500 Tonnen während des Arbeitslebens gehandhabter Lasten mit einem Lastgewicht von mindestens 20 Kilogramm von den Betroffenen mit anerkannter Berufskrankheit deutlich überschritten wird. Diese Erkenntnis unterstreicht die besonders intensive Belastung der Versicherten in der Baubranche. Häufungen lassen sich bislang bei den Berufsgruppen/Tätigkeiten im Maurer-, Dachdecker-, Zimmerer- und Steinmetzhandwerk feststellen.

Die Kausalitätsfeststellung als Knackpunkt

Für ablehnende Entscheidungen kann eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe einschlägig sein. Zu einem kleinen Teil werden die Feststellungsverfahren aufgrund verfahrensrechtlicher Fragestellungen, insbesondere aufgrund der fehlenden Mitwirkung der Betroffenen, eingestellt. Ebenfalls von nachrangiger Bedeutung sind Ablehnungen, die auf eine nicht ausreichende berufliche Lastenhandhabung zurückzuführen sind. In diesem Kontext sind vor allem wechselhafte Erwerbsbiografien im Zuständigkeitsbereich verschiedener Unfallversicherungsträger zu nennen. Eine Gefährdung kann bei einer beruflichen Tätigkeit außerhalb des Bausektors regelmäßig nicht nachgewiesen werden. Ebenso sind Selbstständige betroffen, die sich bei der BG BAU nicht freiwillig gegenüber den Risiken von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten versichert haben. Da entsprechende Gefährdungszeiten nicht unter Versicherungsschutz stehen, können diese nicht bei der Berechnung der Belastungsdosis berücksichtigt werden. Ein größerer Anteil der Ablehnungen entfällt auf das Vorliegen eines Krankheitsbildes, das dem BK-Tatbestand der Nummer 2116 nicht oder nicht in der notwendigen Ausprägung entspricht.

Die Wissenschaftliche Begründung fordert an dieser Stelle den röntgenologischen Nachweis von femoralen und/oder acetabulären Osteophyten[4] entsprechend Grad 2 nach Kellgren und Lawrence oder eine Gelenkspaltverschmälerung (superior, axial und/oder medial) entsprechend Grad 3 nach Kellgren und Lawrence.[5] Eine besondere Herausforderung bei der Entscheidung über das Vorliegen einer BK-Nummer  2116 bildet die Bewertung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der gefährdenden Einwirkung durch Lastenhandhabung und der Entstehung einer Hüftgelenksarthrose. In diesem Kontext werden vor allem Fragen der ein- beziehungsweise beidseitigen Betroffenheit der Hüftgelenke, die Plausibilität des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Einwirkung und Auftreten der Erkrankung sowie außerberufliche Risikofaktoren diskutiert.

Nach Auswertung der bislang vorliegenden medizinischen Sachverständigengutachten zeichnet sich eine klare Tendenz zur Forderung einer Betroffenheit beider Hüftgelenke ab. Bei einer beruflichen Lastenhandhabung im Baubereich kann grundsätzlich von einer beidseitigen Belastung ausgegangen werden. Eine einseitige Betroffenheit oder eine deutliche Diskrepanz im Ausprägungsgrad der arthrotischen Veränderungen beider Hüftgelenke kann mit dieser Belastung regelmäßig nicht in Einklang gebracht werden. Bei der Bewertung des Auftretens arthrotischer Veränderungen spielt vor allem die Zeitspanne zwischen dem Ende der beruflichen Lastenhandhabung und dem Nachweis einer Hüftgelenksarthrose im Sinne der Wissenschaftlichen Begründung eine besondere Rolle. Die zunehmende Dauer dieser Zeitspanne entfaltet dabei eine negative Indizwirkung. Ein Ursachenzusammenhang lässt sich mit hinreichender Wahrscheinlichkeit immer schwieriger feststellen. Ablehnende Entscheidungen, die sich im Wesentlichen auf diese zeitliche Komponente stützen, weisen nach Auswertung der bisherigen Entscheidungen Zeitspannen zwischen zwölf und 36 Jahren auf.

Bezogen auf konkurrierende und außerberufliche Risikofaktoren für die Entstehung einer Hüftgelenksarthrose lässt sich aus den Angaben der medizinischen Sachverständigen eine Vielzahl potenzieller Faktoren ableiten. Neben unfallbedingten Verletzungen und Schädigungen der Hüfte werden insbesondere angeborene Fehlstellungen wie Hüftdysplasien genannt. Eine besondere Relevanz wird auch dem CAM-Impingement sowie Hüftkopfnekrosen[6] zugeschrieben. Immer wieder werden auch Übergewicht/Adipositas sowie Nikotin- und Alkoholabusus diskutiert, ohne dass diesen Faktoren in den bisherigen Fallgestaltungen eine überragende Bedeutung beigemessen wurde.

Analoge Anwendung der Kausalitätskriterien

Eindeutige Hinweise zur Auflösung der oben genannten Problemstellungen finden sich in der Wissenschaftlichen Begründung nicht. Im Sinne der Gleichbehandlung wird daher in Analogie zur BK-Nummer 2112 vorgeschlagen, die dort herausgearbeiteten Hinweise zur Kausalitätsfeststellung auf die BK-Nummer 2116 zu übertragen.[7] Dies betrifft insbesondere:

  • eine dem Lebensalter vorauseilende Ausprägung der arthrotischen Veränderungen
  • eine in etwa gleichartige Ausprägung der Arthrose in beiden Hüftgelenken (Seitendifferenz maximal ein Kellgrengrad)
  • eine einseitige Hüftgelenksarthrose spricht grundsätzlich gegen eine berufliche Verursachung. Ausnahme: plausible Darlegung der beruflichen Belastung des betroffenen Hüftgelenks
  • eine plausible Zeitspanne zwischen dem Ende der Exposition und dem Nachweis der Erkrankung

Eine weiterführende medizinisch-wissenschaftliche Diskussion dieser Kriterien scheint geboten. Dies gilt ebenfalls für die Aufstellung und Bewertung außerberuflicher Risikofaktoren. Auch hier kann die BK-Nummer 2112 als Vorbild dienen.[8]

Individualprävention Hüfte

Es liegt nahe, die guten Erfahrungen mit individualpräventiven Maßnahmen auf dem Gebiet der Muskel-Skelett-Erkrankungen auf die Arthrose des Hüftgelenks anzuwenden. Dabei ist mit Blick auf die berufliche Einwirkung (Lastenhandhabung) vor allem auf das Rückenkolleg und hinsichtlich des Erkrankungsbildes (Arthrose) auf das Kniekolleg hinzuweisen.[9][10] Unterstützt durch die Intention der Stärkung der Individualprävention im Zuge der zum 1. Januar 2021 im BK-Recht eingetretenen gesetzlichen Änderungen ist das Angebot eines Hüftkollegs die logische Konsequenz.[11]