(K)eine fiktive Klagerücknahme

Als Nichtbetreiben eines Verfahrens kann es nicht angesehen werden, dass Prozessbevollmächtigte einer Klägerin die vor der Gewährung von Akteneinsicht wiederholt vom Gericht angeforderte Prozessvollmacht nicht vorlegen.

§ Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 9. Dezember 2020 – L 3 U 96/20 –, juris

Seit April 2008 kennt das Sozialgerichtsgesetz (SGG) Regelungen, mit denen das sozialgerichtliche Klageverfahren vereinfacht und gestrafft werden soll, um so die Sozialgerichtsbarkeit selbst – bei damals stark steigenden Klageeingängen – nachhaltig zu entlasten. Ein Teil dieser Regelungen betrifft die Seite der Kläger in Form der aktiven Förderung des Fortgangs des Verfahrens – hier konkret die sogenannte fiktive Klagerücknahme. § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG lautet: „Die Klage gilt als zurückgenommen, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt.“ Den Grundgedanken einer solchen Klagerücknahmefiktion kennen wir schon lange vorher aus dem „normalen“ Verwaltungsgerichtsprozess und dem Asylverfahrensrecht; das ist gut, können wir doch bei konkreten Fragen auf diesbezügliche Literatur und Rechtsprechung zurückgreifen.

In diesem Bereich bewegt sich die hiesige Entscheidung des Landessozialgerichts (LSG)Niedersachsen-Bremen. In einem Klageverfahren um die Anerkennung von Folgen eines Arbeitsunfalls vor dem Sozialgericht (SG) Hannover beantragten die Prozessbevollmächtigten (Rechtsanwälte) in ihrer Klageschrift auch Einsicht in die Verwaltungsakte der Beklagten. Im Vorfeld dieser Einsichtnahme forderte das SG Hannover dreimal mit Fristsetzung die Zusendung einer Originalvollmacht an; beim letzten Mal mit Hinweis auf § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG. Nach Ablauf von drei Monaten, in denen die Vollmacht nicht zugesandt wurde, stellte es mit Gerichtsbescheid fest, die Klage sei gemäß § 102 Abs. 2 SGG fiktiv zurückgenommen.

Das scheint auf den ersten Blick nachvollziehbar; ein zweiter Blick belehrt uns jedoch eines Besseren. Was bedeutet „das Verfahren nicht betreiben“? Im Raum steht hier – so das LSG – „[…] nicht jegliche Mitwirkungspflicht […], [sondern] nur das Unterlassen solcher prozessualen Mitwirkungshandlungen […], die […] für das Gericht […] notwendig sind, um den Sachverhalt zu klären und eine Sachentscheidung zu treffen“ (Rn. 23). Wenn wir nun das Vorliegen einer Originalvollmacht hinterfragen, stoßen wir auf § 73 Abs. 6 Satz 5 SGG, wonach das Gericht den Mangel einer Vollmacht von Amts wegen zu berücksichtigen hat, „wenn nicht als Bevollmächtigter ein Rechtsanwalt auftritt“. Und genau das war hier der Fall; zudem bestanden auch keine ernstlichen Zweifel, dass eine solche Vollmacht fehlt, unter anderem weil die Klägerin zeitgleich eine weitere Klage bei derselben Kammer des SG Hannover erhoben hatte, bei der die Vollmacht derselben Prozessbevollmächtigten vorlag.

Es reicht also nicht, dass ein Kläger irgendwie nicht mitmacht und sich das Gericht – salopp gesagt –  ärgert. So führt auch das LSG Nordrhein-Westfalen mit Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts aus: „Die Rücknahmefiktion darf weder als Sanktion für einen Verstoß gegen prozessuale Mitwirkungspflichten oder unkooperatives Verhalten eingesetzt werden (BVerfG, 17.9.2012 – 1 BvR 2254/11 –, Rn. 28), noch stellt die Vorschrift ein Hilfsmittel zur Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen dar“ (LSG NW, Urteil vom 29.05.2020 – L 21 AS 1240/18 –, juris, Rn. 24). Es geht – so auch das Bundessozialgericht – allein um das Vorliegen konkreter Anhaltspunkte, „die den sicheren Schluss zulassen, dass den Beteiligten an einer Sachentscheidung des Gerichts in Wahrheit nicht mehr gelegen ist“ (BSG, Urteil vom 04.04.2017 – B 4 AS 2/16 R – juris, Rn. 22). Das war in unserem Fall nicht so, weshalb dem LSG Niedersachsen-Bremen mit seiner hiesigen Entscheidung, den Gerichtsbescheid des SG Hannover aufzuheben, vollkommen recht zu geben ist.

Nur ein Hinweis am Rande: Das Sozialgerichtsgesetz nimmt nicht allein die Kläger in die Pflicht „mitzumachen“ (auch über die fiktive Klagerücknahme hinaus), sondern auch die Beklagten, also unter anderem die Sozialversicherungsträger; hier ein paar Kostproben: § 106a Abs. 2 und 3 (Zurückweisung verspäteten Vorbringens), § 131 Abs. 5 (Aufhebung von Entscheidungen bei mangelnder Sachaufklärung inklusive Zurückverweisung) und § 192 Abs. 4 SGG (Überwälzung von Kosten gerichtlicher Ermittlungen bei mangelnden Ermittlungen der Beklagten). Bei diesem gesamten „Instrumentarium“ sind die Sozialgerichte gehalten, vorsichtig zu agieren; es geht bei aller Sehnsucht nach einem zügigen, schlanken Prozess vor allem darum, allen Beteiligten einen „fairen Prozess“ zu garantieren.