Online-Learning-Angebote: Vom Notfallplan zum neuen Qualifizierungsportfolio?
Im Frühjahr 2020 waren die Unfallversicherungsträger gezwungen, angesichts des ruhenden Präsenzbetriebes in der Qualifizierung quasi „notfallmäßig“ alternative Online-Angebote zu machen. Nun stellt sich die Frage, ob und wie diese Notfallangebote nach der Pandemie in das reguläre Portfolio der Unfallversicherungsträger überführt und professionalisiert werden können.
Zu Beginn der Corona-Pandemie und zum Start des Sommersemesters im Jahr 2020 entstand an den Hochschulen der Begriff des „Emergency Remote Teaching“ (Hodges et al., 2020). Nicht nur die Hochschulen waren plötzlich gezwungen, aufgrund der Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die Lehre in den digitalen Raum zu verlagern. Auch die Unfallversicherungsträger boten vielfach alternative Online-Qualifizierungen an, die häufig sehr schnell improvisiert werden mussten. Das war für diese Situation gut, grundsätzlich gilt aber: „Gut geplante Online-Lernerfahrungen unterscheiden sich deutlich von Kursen, die als Reaktion auf eine Krise oder Katastrophe online angeboten werden [...].“[1]
Gut geplante Online-Lernerfahrungen benötigen Ressourcen für die Entwicklung, Durchführung und Evaluation. In diesem Zusammenhang waren und sind die Voraussetzungen bei den Unfallversicherungsträgern sehr heterogen. Während einzelne Unfallversicherungsträger auf einen reichen Erfahrungsschatz und das entsprechende Personal zurückgreifen können, stehen andere noch am Anfang und haben für die Online-Lernangebote Ressourcen aus dem ruhenden Präsenzgeschäft genutzt. Mit der geplanten Rückkehr zur Präsenz nach der Pandemie stellt sich nun die Frage, wie es mit den digitalen Qualifizierungsangeboten weitergehen kann. Wie können Unfallversicherungsträger ihr „Notfallangebot“ in ein nachhaltig verändertes Qualifizierungsportfolio überführen? Ressourcen, Kompetenzen und Professionen spielen dabei die zentrale Rolle.
Erste Schritte und Erfahrungen während der Corona-Zeit
Auch im Bereich Qualifizierung der Berufsgenossenschaft Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse (BG ETEM) wurde schnell auf den coronabedingten Ausfall der Präsenzseminare reagiert und eine Online-Alternative angeboten. Mit dem neu beschafften virtuellen Seminarraum und der vorhandenen Videokonferenzanwendung standen zwei Möglichkeiten zur Verfügung, die Seminare online durchzuführen. Insbesondere die Seminare zur Qualifizierung von Sicherheitsbeauftragten, Fachkräften für Arbeitssicherheit und operativen Führungskräften wurden zügig online angeboten.
Im ersten Schritt wurde versucht, die auf Präsenzlernen ausgerichteten Inhalte und Methoden möglichst eins zu eins im Online-Seminar abzubilden und so die gewünschten Lernziele zu erreichen. Sehr schnell wurde aber klar, dass Online-Formate methodisch und didaktisch neu gedacht werden müssen. Eine Aktivierung der Teilnehmenden zum Beispiel stellt eine deutlich größere Herausforderung dar. Konzepte und Leitfäden der Präsenzseminare passten nicht oder nur bedingt zu der Lernsituation im virtuellen Klassenzimmer. Hinzu kamen sehr unterschiedliche Voraussetzungen in der technischen Ausstattung der Teilnehmenden bezüglich Ton- und Kameratechnik, der lokalen Bandbreite der Internetverbindung und in der Sicherheit des Umgangs mit der Technik. Erschwerend kam hinzu, dass aus Gründen der Datensicherheit einige Firmen sehr restriktiv mit den Zugängen zum Internet umgehen und dadurch den Lernenden die Installation und Nutzung der notwendigen Anwendungen zum Teil nicht oder nur eingeschränkt möglich war. Als Beispiel sei die Anwendung für das Videokonferenztool genannt. Ohne diese App musste der Beitritt zu den Sitzungen über einen Browser erfolgen. Bei dieser Variante standen den Teilnehmenden aber nicht alle Funktionen des Tools zur Verfügung.
Die Suche nach Tools
Bereits in der ersten Phase der Umsetzung als Online-Seminar haben sich die Lehrenden eigenverantwortlich und hoch motiviert auf die Suche nach passenden Tools gemacht, um mit digitalen Whiteboards und Flipcharts, kurzen Selbstlernsequenzen und Umfragen die Veranstaltungen aktiver und attraktiver zu gestalten. In den meisten Fällen folgte der erfolgreichen Erprobung der Tools aber die Ernüchterung bei der Überprüfung der datenschutzrechtlichen Voraussetzungen für eine Beschaffung der Tools und den Einsatz im Regelbetrieb. Dabei sind es gerade die Webseiten und Anwendungen zur Kollaboration, zu Umfragen und gemeinsamer Arbeit an Dokumenten und Inhalten, die die Online-Seminare bereichern können. Sie unterstützen den Kompetenzerwerb, indem sie für den Austausch der Lernenden untereinander, die Kollaboration, aber auch die eigene Reflexion genutzt werden können.
Bei der Erhebung eines Stimmungsbildes innerhalb des Kollegiums im Bereich Qualifizierung der BG ETEM wurde grundsätzlich die größere Flexibilität der Online-Seminare hervorgehoben. Auch die Möglichkeit der Bereitstellung von weiteren Informationen und Materialien über das vorhandene ILIAS-Lernportal wurde positiv bewertet. Genauso positiv erschien die Möglichkeit, mehrere Informationskanäle parallel nutzen zu können, um Lernende zu erreichen. Der bei den Sicherheitsbeauftragten erprobte Mix aus synchroner, virtueller Präsenz, dem online bereitgestellten Material und der Bearbeitung von Aufgaben und kleinen Selbstlernmodulen wurde von allen Beteiligten ausdrücklich gelobt.
Dem gegenüber sahen sowohl die Lernenden als auch die Lehrenden erhebliche Nachteile durch den fehlenden persönlichen Kontakt wie in Pausengesprächen oder nach Seminarende. Lernschwierigkeiten und Befindlichkeiten der Teilnehmenden, so die Lernbegleiterinnen und Lernbegleiter der BG ETEM, seien weniger gut wahrnehmbar gewesen. Die hohen Anforderungen an die Konzentration während der Online-Seminare führten schnell zu einem entsprechenden Zeitmanagement mit Pausen und zum Teil angepassten Konzepten mit einem Mix aus Selbstlernphasen und Anwesenheit im virtuellen Klassenzimmer. Insbesondere zu Beginn der Corona-Pandemie wurde die Stabilität der Internetverbindungen und der verwendeten Videokonferenzanwendungen kritisch gesehen für den Erfolg der Angebote. Übereinstimmend wurde in den meisten Szenarien das Team-Teaching als unverzichtbar eingeschätzt, um neben der Konzentration auf den Inhalt und die Moderationstätigkeit auch die Technik und zum Beispiel den Chat im Auge zu behalten.
Die Akzeptanz der ad hoc entstandenen Online-Angebote seitens der Lernenden war hoch. Bereits die Tatsache, dass die Angebote angesichts der pandemischen Lage nicht dauerhaft ausgefallen sind, wurde positiv rückgemeldet. Ebenso positiv wurde die Qualität der Umsetzung der Angebote bewertet. Dabei waren gerade zu Beginn der Online-Qualifizierungen eine große Offenheit und Fehlertoleranz aller Beteiligten zu beobachten. Zwei Jahre nach der notfallmäßigen Einführung der Angebote – zum Teil als „Versuchsballons“ – wächst jetzt der Anspruch an die Professionalität und Gestaltung nicht nur seitens der Versicherten, sondern vor allem auch seitens der Durchführenden, der Pädagoginnen und Pädagogen und der Mitarbeitenden in der Produktentwicklung.
Digitale Transformation in der Qualifizierung
Nachdem es in den ersten Monaten der Corona-Krise darum ging, ein Angebot aufrechtzuerhalten und größeren Schaden abzuwenden, stellt sich jetzt die Frage: Wie geht es nach der Corona-Pandemie weiter mit den Online-Angeboten in der Qualifizierung? Wie können die gewonnenen Erfahrungen für die Zukunft nutzbar gemacht werden? Die Chancen und Risiken bedürfen einer strategischen Betrachtung bei den Unfallversicherungsträgern.
„Eine zentrale Herausforderung dieser Situation ist die Frage, ob es gelingt, aus dem Krisenmodus der beschleunigten Digitalisierung in einen neuen, nachpandemischen Modus der digitalen Transformation zu wechseln. Dies würde bedingen, dass sich die Anbieter die Zeit nehmen können, um ihre Erfahrungen zu verarbeiten und zu evaluieren, sich mit anderen Anbietern auszutauschen und eine für ihre Organisation, ihr Angebot und ihre Zielgruppen adäquate digitale Strategie zu erarbeiten […].“[2]
Die Corona-Pandemie könnte zu einem echten „Gamechanger“ im Prozess der digitalen Transformation werden. In der gesamten Präventionsarbeit – und dazu zählt maßgeblich der Bereich Qualifizierung – sind die digitalen Angebote nicht mehr wegzudenken und werden von den Versicherten und ihren Unternehmen explizit nachgefragt und eingefordert. Chancen liegen hier unter anderem in der Möglichkeit, zeitnah und bedarfsgerecht auf aktuelle Herausforderungen, Trends oder Themenschwerpunkte zu Sicherheit und Gesundheit reagieren zu können. Zielgruppen, die bisher nicht den Weg in die klassischen Präsenzseminare gefunden haben, können auf digitalen Wegen gegebenenfalls besser erreicht werden.
Für die langfristige Erweiterung des Qualifizierungsportfolios sind jetzt strategische Weichen zu stellen. Die benötigten Ressourcen in den Bereichen Personal, Technik, Organisation und Expertise sind bei den Unfallversicherungsträgern nur zum Teil vorhanden und müssen für die Zukunft aufgebaut oder eingeworben werden. Die Arbeitsgruppe Aus- und Weiterbildung (AAW) der DGUV verfolgt und unterstützt den Prozess der digitalen Transformation aus fachlicher Sicht. Auch die AAW sieht die Notwendigkeit einer Neubewertung der Ressourcen für eine Qualifizierungsstrategie, bei der digitale Angebote die Portfolios der Unfallversicherungsträger ergänzen und aufwerten. Dazu sind Ressourcen erforderlich in den folgenden Bereichen:
- Personalplanung und Personalentwicklung (zum Beispiel: Gewährleistung von Team-Teaching; individuelle Weiterbildung zum Online-Trainer; Kenntnisse in der Administration von Lernplattformen)
- Expertise in der Entwicklung und Durchführung von Online-Formaten und digitalen Lernprozessen (Mediendidaktik)
- IT-Infrastruktur und technischer Support
- Organisation der digitalen Angebote und deren Umsetzung im Bereich Qualifizierung
- Qualitätssicherung und kontinuierliche Verbesserung der neu entstandenen Produkte
Genauso wie Präsenzangebote bedürfen die digitalen Qualifizierungsangebote einer professionellen Entwicklung, Durchführung und Evaluation. Die Bedürfnisse der Lernenden und die angestrebte Kompetenzentwicklung müssen dabei im Mittelpunkt stehen.
„Die letzten Monate haben gezeigt: Erwachsenenbildung zu digitalisieren, ist in erster Linie eine Gestaltungsaufgabe. Auf weitere Sicht wird es nicht darum gehen, möglichst viele Kurse digital anzubieten, sondern pädagogisch anspruchsvolle und mediendidaktisch überzeugende Angebote zu gestalten.“[3]
Aspekte der Formatauswahl
Die Entscheidung, ob und wann ein Format das geeignete ist, den angestrebten Kompetenzerwerb zu ermöglichen, ist nicht einfach zu beantworten.[4] Jedes Qualifizierungsformat bietet ganz eigene Chancen, Möglichkeiten und Risiken für das Gelingen des angestrebten Qualifizierungsziels. Dabei lassen sich digitale Formate nicht einschränken auf die Funktion des sogenannten Wissenstransfers – genauso wenig wie Präsenzangebote der Garant für einen gelungenen Erfahrungsaustausch sind.
„Das Ziel der Unfallversicherungsträger, systematische und nachhaltige Handlungskompetenzen durch Qualifizierung zu erreichen, kann bei professioneller Umsetzung sowohl online als auch in Präsenz erreicht werden […].“[5]
Klare Grenzen sind lediglich bei praktischen Übungen und notwendigem „Hands-on“ gesetzt. Hier kann ein Online-Format die Anleitung in der Praxis meist nicht ersetzen. Genau diese Alleinstellungsmerkmale für Präsenzangebote gilt es künftig noch besser darzustellen, um nicht zuletzt das Bestehen der eigenen Bildungsstätten zu sichern.
Die derzeitigen Diskussionen rund um die Wirtschaftlichkeit von Online-Qualifizierung greifen nach Auffassung des Autors zu kurz. Die Entwicklung von hochwertigen und nachhaltig wirksamen Online-Angeboten ist mindestens so ressourcen- und kostenintensiv wie die Konzeption von Präsenzangeboten. Die Forderungen nach schnellen, kostengünstigen und somit scheinbar effizienten digitalen Lernangeboten steht aber auch dem Anspruch der Unfallversicherungsträger gegenüber, vor allem die Handlungskompetenzen der betrieblichen Akteurinnen und Akteure in der Prävention zu fördern. Kompetenzentwicklung benötigt Zeit, Austausch, Reflexion und eine förderliche Lernumgebung. Dies gilt es bei der Auswahl des passenden Lernformates in den Fokus zu stellen.
Vor allen anderen Überlegungen stehen bei der Entwicklung von Qualifizierungsprodukten die Fragen nach den Lernzielen, den zu fördernden Kompetenzen, den Inhalten und der Zielgruppe. Passt dazu ein digitales Format beziehungsweise ein Präsenzformat oder eher nicht? Die Entscheidung für ein Format muss immer eine bewusste fachliche Entscheidung sein. Aktuelle Trends oder organisatorische Vorteile des Formates (scheinbar einfach umsetzbar und/oder bereits gut etabliert) dürfen die didaktischen Überlegungen nicht überlagern.
Schon allein vor diesem Hintergrund gibt es nicht das eine passende Format. Möglicherweise gibt es für ein und dasselbe Thema oder die gleiche Zielgruppe auch verschiedene Formate, mit denen auf unterschiedlichen Wegen das Ziel erreicht werden kann. Dabei sind innerhalb der Zielgruppe auch unterschiedliche Lerntypen, Altersgruppen und betriebliche Hintergründe zu betrachten. Findet die Zielgruppe im Unternehmen keine förderliche Lernumgebung für das Online-Format vor oder fehlen die technischen Möglichkeiten zur reibungslosen Teilnahme, kann es sinnvoll sein, das Angebot (auch) in Präsenz zu machen. Die Qualifizierung der Teilnehmenden erfolgt in unterschiedlichen Arbeits- und Lebenssituationen. Dieser Diversität der Lernenden müssen die Unfallversicherungsträger mit einem breit gefächerten Angebot verschiedener Lernwege künftig Rechnung tragen.
Nach Überzeugung vieler Fachleute scheint der Kombination von Formaten die Zukunft zu gehören. Bei diesen sogenannten Mischformaten gibt es verschiedene Ansätze, von denen drei hier exemplarisch aufgeführt werden sollen:
- Blended Learning: Verknüpfung von physischer Präsenz oder virtueller Präsenz mit (online angebotenen) Selbstlernphasen – mit oder ohne Lernbegleitung
- Hybride Lehre: synchrone Kombination von physischer und virtueller Präsenz innerhalb einer Lerngruppe; ein Teil der Lernenden ist vor Ort, ein Teil schaltet sich virtuell dazu
- Flipped Classroom: eine Form von Blended Learning, bei der die inhaltliche Vorbereitung auf die Präsenzveranstaltung im selbstorganisierten Lernen erfolgt
Neben den didaktischen Überlegungen sind es vor allem Überlegungen bezüglich der vorhandenen Ressourcen, die eine Formatentscheidung beeinflussen. Die Produktentwicklung und ihre Umsetzung kosten Personal, Zeit und Geld. Formatentscheidungen werden dabei stets in einem Spannungsfeld getroffen, in dem die vorhandenen Ressourcen, die geplante inhaltliche Qualität, die nötige Entwicklungsgeschwindigkeit, die gedachte Reichweite und (siehe Abbildung 1) die Passung zur Zielgruppe die wesentlichen Faktoren sind.
Zukunftsfähige Portfolios
Letztlich müssen digitale Qualifizierungsformate in das Gesamtportfolio der jeweiligen Organisation passen und deren Voraussetzungen und Rahmenbedingungen berücksichtigen. Grundsätzlich liegt in der Erweiterung des Portfolios eine große Chance. Die Bedürfnisse der Lernenden und der Unternehmen können unter Umständen durch Online-Angebote noch besser bedient werden. Möglicherweise werden hierdurch auch Zielgruppen erreicht, die durch das klassische Seminarangebot bisher nicht angesprochen wurden. Ein wesentlicher Aspekt muss hierbei die Qualität der Angebote sein. Der Gedanke an vermeintliche Einsparung von Reisekosten, Abwesenheitszeiten oder der Vorhaltung von Kapazitäten an Bildungsstätten greift hier zu kurz. Auch professionell gestaltete Online-Qualifizierungsformate benötigen Zeit, Personal und finanzielle Ressourcen.
Mit der digitalen Transformation in der Qualifizierung sind somit notwendigerweise auch eine Organisationsentwicklung und ein entsprechender Change-Prozess innerhalb der Unfallversicherungsträger verbunden. Der Bedarf an vielfältigeren Qualifizierungsangeboten lässt sich nur mit entsprechenden Ressourcen bedienen. Nachhaltige und professionelle Qualifizierung mit einem breiten Portfolio der unterschiedlichen Formate und Angebote gibt es nicht zum Nulltarif. Der Return on Invest – oder besser: „Return on Prevention“ – könnte aber in einer noch größeren, nachhaltigeren und wirksameren Qualifizierung der betrieblichen (und auch der internen) Zielgruppen liegen. Ganz im Sinne der Prävention „mit allen geeigneten Mitteln“.