Digitale Gesundheitsanwendungen in der gesetzlichen Unfallversicherung

Digitalisierungsprozesse betreffen mittlerweile alle Sozialversicherungsträger und modifizieren ihr Leistungsangebot nachhaltig. Hierzu zählt auch die „App auf Rezept“, die als sogenannte Digitale Gesundheitsanwendung neu in den Leistungskatalog der gesetzlichen Kranken-, Renten-, Unfall- und Pflegeversicherung aufgenommen wurde.

Mit dem Inkrafttreten des Digitale-Versorgung-Gesetzes (DVG) am 19. Dezember 2019 wurden Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) im Sinne einer „App auf Rezept“ in die Gesundheitsversorgung eingeführt (§§ 33a und 139e SGB V). Dieses Leistungsangebot gilt auch für Versicherte der gesetzlichen Unfallversicherung. Durch die Aufnahme der DiGA in § 42 Neuntes Buch Sozialgesetzbuch – Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen (SGB IX) – Autorin und Autor Dr. Marion Baierl Steffen Krohn können die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung eine DiGA unter den Voraussetzungen des § 47a SGB IX erbringen.

DiGA-Verzeichnis

Das (BfArM) hat die Aufgabe, DiGA in Bezug auf positive Versorgungseffekte sowie technische und datenschutzrechtliche Aspekte zu prüfen und in einem amtlichen Verzeichnis als erstattungsfähig zu führen. Die insoweit nachzuweisenden positiven Versorgungseffekte sind entweder ein medizinischer Nutzen oder auch (nur) eine patientenrelevante Struktur- und Verfahrensverbesserung in der Versorgung. Liegen hierzu noch keine umfassenden Daten vor, kann der Hersteller zunächst eine vorläufige Aufnahme in das DiGA-Verzeichnis beantragen.

Das BfArM prüft dabei die medizinprodukterechtlichen Vorgaben nicht erneut[1], sondern die leistungsrechtlichen Voraussetzungen der Erstattungsfähigkeit. Dies ist bemerkenswert, da hierdurch die Gestaltungsverantwortung der gemeinsamen Selbstverwaltung auf eine vorerst schwerpunktmäßig im Gefahrenabwehrrecht praktizierende staatliche Institution verlagert wird. Diese neue Rolle nimmt das BfArM nun auch für weitere Sozialversicherungsträger wahr, da diese regelhaft auf dessen positive Listung abstellen. Gemäß § 139e Abs. 1 Satz 3 SGB V in Verbindung mit § 22 Digitale-Gesundheitsanwendungen-Verordnung (DiGAV) veröffentlicht das BfArM folgende Bekanntmachungen im Bundesanzeiger:

  • die Errichtung des Verzeichnisses für DiGA
  • die Bildung neuer Gruppen oder die Veränderung bestehender Gruppen im DiGA-Verzeichnis
  • die Aufnahme neuer DiGA im DiGA-Verzeichnis
  • die wesentlichen Änderungen von DiGA im DiGA-Verzeichnis nach § 139e Abs. 6 Satz 1 des SGB V
  • die Streichung von DiGA aus dem DiGA-Verzeichnis

Nach dem konkretisierenden Leitfaden des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM)[2] ist eine DiGA im Sinne des § 33a SGB V ein Medizinprodukt, das folgende Eigenschaften hat (nachfolgend Auszug):

Medizinprodukt der Risikoklasse I oder IIa[3]

  • Die Hauptfunktion der DiGA beruht auf digitalen Technologien.
  • Die DiGA ist keine digitale Anwendung, die lediglich dem Auslesen oder Steuern eines Gerätes dient; der medizinische Zweck muss wesentlich durch die digitale Hauptfunktion erreicht werden (weitere Vorgaben zur Kombination mit Hardware). 
  • Die DiGA unterstützt die Erkennung, Überwachung, Behandlung oder Linderung von Krankheiten oder die Erkennung, Behandlung, Linderung oder Kompensierung von Verletzungen oder Behinderungen (Hinweis: insoweit Abgrenzung zu Primärprävention).
  • Die DiGA wird vom Patienten oder der Patientin beziehungsweise von Leistungserbringer und Patient oder Patientin gemeinsam genutzt. Das heißt Anwendungen, die lediglich vom Arzt oder der Ärztin zur Behandlung der Patienten und Patientinnen eingesetztwerden („Praxisausstattung“), sind keine DiGA.

Durch die mit der Listung im Verzeichnis verbundene Prüfung werden alle DiGA einer einheitlichen Prüfung unterzogen, beispielsweise in Sachen Sicherheit, Funktionstauglichkeit und Datenschutz. So wird eine Vereinheitlichung der Standards über alle Sozialversicherungszweige hinweg herbeigeführt. Je nach gesetzlicher Zuständigkeit verfolgt die Leistung verschiedene Ziele, zum Beispiel den Erhalt der Erwerbsfähigkeit oder die Verbesserung der Pflege. Nach der Aufnahme in das Verzeichnis hat der Hersteller gegenüber dem BfArM wesentliche Veränderungen an der DiGA anzuzeigen.

Das BfArM listet digitale Pflegeanwendungen[4] und DiGA zum Erhalt der Erwerbsfähigkeit[5] separat in seinem Verzeichnis, was die Zuständigkeitsabgrenzung für die Sozialversicherungsträger erleichtert.

Herausforderungen des neuen Leistungsangebots

DiGA können bei einer Vielzahl von Erkrankungen einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung leisten. Sie können Wartezeiten überbrücken, räumliche Distanzen überwinden oder strukturell die Adhärenz steigern. Außerdem können sie Behandlungsabläufe koordinieren oder die Patientensouveränität steigern[6]. Sie sind ein Teil einer digital gestützten Gesundheitsversorgung und operieren aufgrund ihrer Interoperabilität mit der elektronischen Patientenakte, Hilfsmitteln, Wearables (zum Beispiel zur Überwachung von Vitalwerten), Implantaten oder auch telemedizinischen Angeboten.

Dagegen ist der medizinische Nutzen einer DiGA mit der Aufnahme in das Verzeichnis nach § 139a SGB V nur bedingt erwiesen. Die Ärzteschaft fordert, DiGA unter anderem kontinuierlich auf ihre Wirksamkeit, ihren Nutzen, ihre Praktikabilität und ihre Sicherheit zu überprüfen.

Daneben ist aus Sicht der Kostenträger das „Kosten-Nutzen-Verhältnis“ kritisch zu betrachten: So muss die Erstattung im ersten Jahr mit dem vom Hersteller festgesetzten Preis erfolgen – auch dann, wenn DiGA ihren Nutzwert erst unter Beweis stellen müssen. Der Spitzenverband Bund der Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) unterstützt zwar grundsätzlich die Einführung und die Nutzung von DiGA, äußert sich aber zu den im Verhältnis zu anderen Versorgungsbereichen der GKV-Regelversorgung vergleichsweise niedrigen Zugangsvoraussetzungen [7] für DiGA kritisch [8]. Ebenso ist der fehlende Einsatz eines standardisierten Health-Technology-Assessments (HTA) als weiteres Bewertungsinstrument im Rahmen der BfArM-Bewertung kritisiert worden.[9]

Weiterhin ist über die Anwendung von DiGA in der Praxis noch zu wenig bekannt, insbesondere ob die Ergebnisse der Studien dem Versorgungsalltag standhalten können. Da DiGA wie Hilfsmittel als Sachleistung gewährt werden, liegt die regelhafte Nutzung in der Selbstverantwortung der Versicherten.

Den Sachleistungsanspruch erhalten:

  • Versicherte der gesetzlichen Unfallversicherung, die einen Versicherungsfall erlitten haben, in dessen Folge Gesundheitsschäden entstanden sind, die sich mithilfe von DiGA beseitigen oder verbessern lassen beziehungsweise deren Verschlimmerung mit DiGA verhütet wird.
  • Gleiches gilt für Versicherte, bei denen mithilfe von DiGA dem Eintreten einer Berufskrankheit entgegengewirkt werden kann. Dabei ist die Nachrangigkeit von Leistungen nach § 3 BKV gegenüber den Leistungen der GKV zu beachten.

DiGA in der gesetzlichen Unfallversicherung

Auch die Unfallversicherungsträger verstehen DiGA im Sinne der §§ 33a und 139e des SGB V und können diese als geeignete Mittel im Sinne ihres offenen Leistungskataloges der §§ 26 ff. SGB VII definieren. Konsequenterweise umfassen diese alle vom BfArM im DiGA-Verzeichnis aufgeführten digitalen Anwendungen, die von einer behandelnden Ärztin, einem behandelnden Arzt, einer Psychotherapeutin oder einem Psychotherapeuten verordnet oder durch die Unfallversicherungsträger, beispielsweise auf Antrag von versicherten Personen, genehmigt wurden. Nach interner Abstimmung aller Unfallversicherungsträger soll weitgehend auf die Regelungen der GKV Bezug genommen werden. Dies betrifft Datenschutz, Datensicherheit, Qualität und Interoperabilität sowie weitere Aspekte nach §§ 4 bis 6 DiGAV.

Die Indikation aus der Beschreibung des DiGA-Verzeichnisses des BfArM muss den Folgen des Versicherungsfalls und deren Therapie entsprechen. Erfolgt die Verordnung von DiGA durch Durchgangsärztinnen und Durchgangsärzte oder durch am Psychotherapeutenverfahren der DGUV beteiligte Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, ist keine weitere Indikationsprüfung erforderlich. Bei anerkannten Berufskrankheiten können DiGA von behandelnden (Fach-)Ärztinnen und (Fach-)Ärzten verordnet werden. Besonderheiten sind gegebenenfalls im Behandlungsauftrag zu regeln. Bei Verordnung durch andere Ärztinnen und Ärzte oder bei Antrag der Versicherten ist eine Indikationsprüfung durch den Unfallversicherungsträger erforderlich. Wurden die Kosten für DiGA unzuständig getragen, richten sich mögliche Erstattungsansprüche nach den Regelungen des SGB X. Soweit eine DiGA zuständigkeitshalber an andere Kostenträger abzugeben ist, ist auch die Produktdokumentation gemäß Medizinprodukte-Betreiberverordnung (MPBetreibV) zu übermitteln. Hierzu gehören unter anderem die Seriennummer und die Update-Nachweise aus dem Bestandsverzeichnis. Neben der Verordnung sind vor jeder Leistungsgenehmigung die technische, persönliche und sachliche Anwendungseignung der DiGA zu prüfen.

Im Reha-Management und in der Fallbearbeitung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten sollte bei Indikation und Eignung der Versicherten auch ein Hinweis auf geeignete DiGA erfolgen. Versicherte müssen über Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen, um die ihnen verordnete DiGA selbstständig entsprechend der Bedienungsanleitung und den Betriebsvorgaben des Herstellers zweckbestimmt nutzen und anwenden zu können. Sind im Einzelfall besondere Kenntnisse erforderlich, ist gegebenenfalls eine Unterweisung sicherzustellen. Die Vorgaben des BfArM zu geeigneten Altersgruppen sind zu beachten. Soweit DiGA ein ärztliches oder psychotherapeutisches Aufklärungsgespräch – zum Beispiel zur richtigen Anwendung oder zu Kontraindikationen – erfordern, ist dieses vom Unfallversicherungsträger sicherzustellen und gegebenenfalls über den behandelnden Arzt oder die behandelnde Ärztin zu veranlassen.

Versorgungsprozess

Die Abgabe erfolgt – insoweit analog zum GKV-Prozess – durch ärztliche beziehungsweise psychotherapeutische Verordnung oder durch Nachweis der medizinischen Indikation und anschließender Genehmigung. Hier spricht man von einer Selbstverordnung. Sie wird gewährt, wenn die Indikation für die beantragte Anwendung nachvollziehbar ist. Wird eine DiGA von der versicherten Person beantragt und stehen für gleiche Indikationen verschiedene DiGA zur Verfügung, ist grundsätzlich die kostengünstigste DiGA zu wählen[10]. Die Auswahl einer anderen App kann sinnvoll sein, wenn sie sich im Einzelfall zum Beispiel durch eine einfachere Bedienbarkeit besser für die versicherte Person eignet. Es besteht jedoch ebenso wie in der GKV kein Spielraum, soweit die Ärztin oder der Arzt ausdrücklich eine bestimmte DiGA verordnet.

Analog dem GKV-Verfahren stellt der Unfallversicherungsträger bei Vorliegen aller Voraussetzungen der versicherten Person die DiGA im Regelfall als Sachleistung leihweise zur Verfügung. Der Download der DiGA kann von den Internetseiten der Hersteller oder aus den gängigen App-Stores erfolgen und ist perspektivisch gegebenenfalls auch über das Nationale Gesundheitsportal ( www.gesund.bund.de) möglich. Zur Freischaltung der DiGA übermittelt der Unfallversicherungsträger der versicherten Person einen einmalig einlösbaren Freischaltcode/Rezeptcode. Abweichend von der Bereitstellung der DiGA als Sachleistung kann Versicherten über das Persönliche Budget die eigenständige Beschaffung der DiGA ermöglicht werden. Die rechtliche Verantwortlichkeit für die DiGA, zum Beispiel MPBetreibV und Regelungen des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB), verbleibt dann bei den Versicherten und sollte daher nur ausnahmsweise erfolgen.

Die Vergütung erfolgt in Höhe der im DiGA-Verzeichnis angegebenen Beträge – oder in Höhe der für die jeweilige Pharmazentralnummer-Version geltenden Beträge. Auch die ärztlichen oder psychotherapeutischen Leistungen im Zusammenhang mit der Verordnung einer DiGA sollen analog dem GKV-Verfahren honoriert werden[11]. Für die DiGA-Herstellerverbände und den GKV-Spitzenverband besteht die Möglichkeit, Höchstpreisregelungen zu vereinbaren. Die gesetzliche Unfallversicherung hat diese Möglichkeit nicht, sodass empfohlen wird, die im Bereich der GKV vereinbarten Regelungen analog anzuwenden.

Anders als die GKV nimmt die gesetzliche Unfallversicherung an, dass Leistungsträger in ihrer Rolle als Sachleistende für den sicheren Betrieb der Software besondere Regelungen der MPBetreibV zu beachten haben – immer dann, wenn eine DiGA die Voraussetzungen eines „aktiven Medizinproduktes“ entsprechend der Medizinprodukte-Verordnung erfüllt. Eine Ausnahme stellt hierbei die Bereitstellung der DiGA über das Persönliche Budget dar.

Bei Vorleistung der DiGA durch einen anderen Leistungsträger oder durch Versicherte als Selbstzahler wird der Unfallversicherungsträger mit Erstattung der Leistung zum Rechtsnachfolger für Rechtsansprüche aus der DiGA und neuer Verantwortlicher für die Verkehrssicherheit der DiGA, zum Beispiel gemäß MPBetreibV.

Ausblick

Das neue Leistungsangebot der „DiGA“ wird in der Ärzteschaft und bei Versicherten immer bekannter und eine stärkere Nutzung dieser Leistung ist zu erwarten. Das ist Anlass für die gesetzliche Unfallversicherung, sich intensiv mit den Risiken und Chancen von DiGA in der Versorgung von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten zu befassen und darüber hinaus den angestrebten volldigitalen Versorgungsprozess umzusetzen. Antworten auf in diesem Artikel aufgeworfene Fragen, zum Beispiel zum Nachweis eines Zusatznutzens von DiGA und einer sich hieran gegebenenfalls orientierenden Preisgestaltung, sollten gemeinsam mit allen Akteuren und Akteurinnen gesucht werden.


Neben den „DiGA“ im eng gefassten Sinne des § 33a SGB V sehen die Unfallversicherungsträger zahlreiche Einsatzbereiche für weitere digitale Gesundheitsanwendungen in der gesetzlichen Unfallversicherung. Für diese verschiedenen Formen von Gesundheitsanwendungen sind ebenfalls Kriterien zu entwickeln, die als Entscheidungsbasis für eine rechtssichere Nutzung und gegebenenfalls für eine Kostenübernahme dienen können.