Homeoffice reloaded
Ein Plädoyer für die Gleichstellung von Homeoffice und der Arbeit im Unternehmen beim Arbeitsunfallschutz
Einleitung
Bei der Zahl der im Homeoffice Tätigen hinkt Deutschland im internationalen Vergleich den meisten europäischen Staaten hinterher.[1] Im Jahr 2018 arbeiteten rund 8,6 Prozent der (abhängig) Beschäftigten ganz oder mehr als die Hälfte im Homeoffice; weitere 22 Prozent gelegentlich.[2] Allerdings arbeiteten auch bei diesem „Hinterherhinken“ schon mehrere Millionen in Deutschland im Homeoffice. Seit dem Lockdown hat sich die Zahl der im Homeoffice Tätigen über Nacht schlagartig erhöht. Nach der Mannheimer Corona-Studie arbeiteten im Zeitraum vom 20. März bis 15. April 2020 rund 25 Prozent aller Erwerbstätigen im Homeoffice.[3] Die Arbeit im Homeoffice zeigt sich damit – jedenfalls dort, wo es die Art der Tätigkeit zulässt – als das zentrale Scharnier zwischen „Social Distancing“ als präventive Maßnahme zur Verhinderung eines vom Gesundheitswesen nicht zu bewältigenden ungehinderten Ausbreitens von SARS-CoV-2/COVID-19 und dem Versuch, den für eine funktionierende Marktwirtschaft wichtigen Faktor Arbeit zu stabilisieren.[4] Es sind also nicht allein (un)mittelbare finanzielle staatliche Hilfestellungen für die Wirtschaft, Steuernachlässe oder Kurzarbeitergeld, die der Pandemie ökonomisch trotzen sollen; es ist in großem Maße die simple Verlagerung von Arbeit, weg vom „Unternehmen“ hin zum Arbeitsort „zu Hause“.[5]
Was also liegt näher, als den Gedanken des Homeoffice sozialpolitisch respektive arbeits- und sozialrechtlich zu stützen und dabei auch altbekannte Probleme in diesem Bereich zu lösen. In diese Richtung bewegt sich das (wieder) aktuelle Vorhaben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS), die Arbeit im Homeoffice rechtlich klarer zu regeln.[6] Es wäre allerdings fatal, wenn sich die diesbezügliche politische Diskussion wieder nur auf die Frage beschränken würde, ob Beschäftigte ein Recht auf Homeoffice haben sollen. Es gibt viele andere „Baustellen“ im Bereich des Homeoffice; eine davon ist ein Arbeitsunfallschutz, der Lücken zeigt.
I. Lücken im Arbeitsunfallschutz bei Homeoffice
Zunächst einmal sei klargestellt, dass wir im Homeoffice überwiegend einen angemessenen Arbeitsunfallschutz sehen;[7] so sind etwa die Arbeit selbst und zum Beispiel der „berühmte“ Weg zum Drucker unfallversichert – das ist erst einmal positiv. Allerdings gibt es auch Lücken. Wir sehen zuweilen eine Benachteiligung der Arbeit im Homeoffice gegenüber der Arbeit im Unternehmen. Dies soll im Folgenden anhand von drei Konstellationen kurz dargestellt werden, in denen das Bundessozialgericht (BSG) einen Arbeitsunfallschutz ablehnt.
1. Kein Arbeitsunfallschutz bei der Fahrt zu einem Restaurant, um dort zu essen und zu arbeiten („Pizza-Fall“)
2013 ging es um die Frage, ob ein in eigener Entscheidung gelegentlich im Homeoffice arbeitender Beschäftigter dann unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung steht, wenn er abends hungrig seine Wohnung verlässt, in einem Restaurant isst und gleichzeitig an einer dienstlichen Rede arbeitet, später zu Hause daran weiterarbeiten will, weil die Rede am nächsten Tag gehalten werden muss, und auf dem Rückweg vom Restaurant einen Unfall erleidet. Hier verneint das BSG einen Arbeitsunfall, weil der Weg aus dem Homeoffice zum Restaurant (und wieder zurück) kein versicherter Weg sei. Vor dem Hintergrund, dass genau ein solches Geschehen, wäre es im oder aus dem Unternehmen heraus passiert, einen Arbeitsunfall darstellen könnte, will das BSG hier einen Verstoß gegen das Gleichheitsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG nicht sehen; allerdings deutet das BSG in einem sogenannten Obiter Dictum an, bei einem Homeoffice in Vollzeit aus Gleichheitsgründen darüber nachzudenken, ob nicht jedenfalls ein Weg täglich zur Nahrungsaufnahme oder zur Versorgung mit Nahrungsmitteln unter Versicherungsschutz stehen sollte – das ist bis heute noch „offen“.[8]
2. Kein Arbeitsunfallschutz im Homeoffice beim Holen eines Glas Wassers aus der Küche („Wasser-Fall“)
2016 ging es um die Frage, ob bei einem Treppensturz zu Hause ein Arbeitsunfall vorliegt, wenn eine (an Asthma und COPD leidende) Beschäftigte im Homeoffice während der Arbeit von ihrem Arbeitszimmer im Dachgeschoss die Treppe heruntergeht, um sich Trinkwasser aus der Küche zu holen. Das BSG verneint einen Arbeitsunfall mit Bezugnahme auf nicht versicherte Risiken in den eigenen Räumlichkeiten; allerdings: Die Treppe war nicht schadhaft, die Beschäftigte ist offenbar einfach gestolpert. Wäre der gleiche Unfall im Unternehmen geschehen, würden wir einen Arbeitsunfall bejahen. Ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG will das BSG auch hier nicht sehen.[9]
3. Kein Arbeitsunfallschutz bei der Fahrt aus dem Homeoffice hinaus, um Kinder in den Kindergarten zu bringen („Kindergarten-Fall“)
2020 ging es um die Frage, ob sich der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung auch auf Wege bezieht, die vom Homeoffice aus (und zurück) notwendig sind, um Kinder in fremde Obhut, konkret in einen Kindergarten zu bringen, was das BSG verneinte. Das Gesetz stelle nur Wege unter Arbeitsunfallschutz, bei denen vom unmittelbaren Weg von oder zur Arbeitsstätte abgewichen werde, um Kinder fremder Obhut anzuvertrauen (§ 8 Abs. 2 Nr. 2a SGB VII); das sei hier beim Homeoffice nicht der Fall. Zu einer analogen Anwendung der Norm sah sich das BSG nicht in der Lage.[10]
II. Warum gibt es diese Lücken im Arbeitsunfallschutz beim Homeoffice?
Die Analyse der Entscheidungsgründe der genannten Urteile ergibt folgendes Bild, das hier aus Gründen der notwendigen Begrenzung des Umfangs dieses Beitrags nur kursorisch, aber doch pointiert in fünf – nennen wir sie mal – „Bruchstellen“ dargestellt werden soll.[11]
Bruchstelle 1
Homeoffice stört das traditionelle Verständnis von (abhängiger) Arbeit in einem Beschäftigungsverhältnis, in dem gemäß § 7 Abs. 1 SGB IV eine Weisungsgebundenheit der Beschäftigten hinsichtlich Art, Ort, Zeit und Dauer der Tätigkeit sowie eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers besteht und Beschäftigte sich zur Erbringung ihrer Arbeitsleistung zu einer vom Unternehmen vorgegebenen Zeit an einen ebenfalls vorgegebenen Ort begeben. Damit stört Homeoffice auch das Konzept eines traditionellen Arbeitsunfallschutzes, das beim Versicherungsschutztatbestand des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII genau auf diese Sicht der Beschäftigung abstellt.
Bruchstelle 2
Die mit Homeoffice verbundenen Freiheiten der Beschäftigten, ihre Arbeitsprozesse weitgehend selbst zu gestalten, und dem damit verbundenen Wegbrechen alter Abhängigkeiten führen laut aktueller Rechtsprechung zur Begrenzung des Arbeitsunfallschutzes. Im „Pizza-Fall“ sagt uns das BSG 2013, dass der Versicherte bei seinem Entschluss, in ein Restaurant zu fahren, um dort zu essen und zu arbeiten, „weder räumlich noch zeitlich […] hinsichtlich der Nahrungsaufnahme betrieblichen Vorgaben oder Zwängen unterliegen“ würde; das aber sei ausschlaggebend für einen Arbeitsunfallschutz. Homeoffice könne insofern „eine[r] objektiv bestehende[n] betriebliche[n] Ablauforganisation“ mit ihren „Vorgaben und Zwängen“ nicht gleichgestellt werden. Würde man es doch tun, wäre „es völlig ins Belieben des jeweiligen Versicherten gestellt […], wann und wie er durch einen Weg zur Nahrungsaufnahme den Versicherungsschutz der Wegeunfallversicherung begründen könnte“.[12] In der Literatur wird dem zum Teil Beifall gespendet: „Die vom BSG vorgenommene Grenzziehung ist die unvermeidliche Kehrgrenze der Freiheit, Arbeitsort und Arbeitszeit zu bestimmen.“[13]
Bruchstelle 3
Homeoffice stößt auf eine traditionell örtlich trennende Denkwelt von Arbeit und Arbeitsunfallschutz, die zwar teilweise von dem Bild „Unternehmen = Arbeit“ und „zu Hause = privat“ loslassen muss, das aber umfassend doch nicht will oder kann. Risikosphären werden örtlich gedacht und so ist es offenbar weniger von Bedeutung, dass gearbeitet wird, sondern wo gearbeitet wird.
Ein Blick in eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 31. Januar 2008: „Es stand der Klägerin als Schulleiterin frei, diese Tätigkeiten in ihrem Dienstzimmer oder anderenorts, auch außerhalb der üblichen Dienstzeit zu verrichten. Entscheidet sie sich aber, die Dienstaufgaben in ihrem häuslichen Arbeitszimmer zu erledigen, kommt Dienstunfallschutz nur eingeschränkt in Betracht. Die sich dort verwirklichenden Risiken sind in der Regel dem privaten (eigenwirtschaftlichen) Risiko des Beamten zuzuordnen; denn der Beamte, der darauf verzichtet, für die Erledigung dienstlicher Aufgaben das ihm vom Dienstherrn zur Verfügung gestellte Dienstzimmer zu benutzen, hat freiwillig die unfallfürsorgegeschützte Risikosphäre des Dienstherrn verlassen.“[14]
Ein Blick in eine Entscheidung des Sozialgerichts (SG) München vom 4. September 2019 zeigt, dass dieser Gedanke auch im sonstigen Arbeitsleben eine gewichtige Rolle einnehmen soll: „Im Homeoffice besteht keine räumliche oder zeitliche Eingliederung in einen Betrieb; mit Verlassen der Betriebsstätte begibt sich ein Versicherter vielmehr in seinen häuslichen Bereich und damit seine eigene Risikosphäre.“[15]
Im „Wasser-Fall“ sehen wir 2016, dass es für das BSG kein Problem ist, dass ein ganz normaler Vorgang (Treppensturz) ohne das Einwirken örtlich spezifischer Risiken im Unternehmen zum Arbeitsunfallschutz führt; im Homeoffice dagegen nicht.
Bruchstelle 4
Homeoffice und die sogenannte Entgrenzung von Arbeit führen zu einer starken Annäherung, teils zu einer Vermischung von Arbeit und Privatem und stören damit den traditionellen Ansatz von Arbeitsunfallschutz, Arbeit und Privates strikt zu trennen. Als dem Kausalprinzip verhafteter Sozialversicherungszweig ist die gesetzliche Unfallversicherung „von Geburt an“ darauf getrimmt, genau das zu tun, nämlich Arbeit und Privates zu trennen.
Bruchstelle 5
Homeoffice trifft zuweilen auf größere Widerstände, die Dinge anders zu denken als bisher. Ein Paradebeispiel dafür liefert uns das BSG am 30. Januar 2020 im „Kindergarten-Fall“. Bei der Suche nach einer planwidrigen Lücke im Gesetz als Voraussetzung für eine analoge Anwendung des § 8 Abs. 2 Nr. 2a SGB VII (Unfallversicherungsschutz bei vom unmittelbaren Weg abweichendem Weg, um Kinder fremder Obhut anzuvertrauen) konzentriert sich das BSG allein auf die Frage, ob der Gesetzgeber im Moment seiner Gesetzgebung (1971/1996) etwas (das Homeoffice) übersehen habe, und verneint dies. Die zweite Variante einer planwidrigen Lücke in Form einer Veränderung der Lebensverhältnisse nach dem Erlass des Gesetzes – anfangs noch vom BSG erwähnt – blendet das BSG in seinen späteren Überlegungen komplett aus; kein einziger Gedanke in Richtung einer sich verändernden Arbeitswelt; keine Daten, keine Statistik, keine Überlegungen zur neuen Dimension von Homeoffice – nichts; um schließlich in einer Art Fußnote drei Stimmen aus der Literatur, die sich genau solche Gedanken machen, zu attestieren, sie würden „tendenziell eine Anpassung der Rechtsprechung auch contra legem an die Entwicklungen der Arbeit 4.0 postulieren“.[16] Klarer kann sich Rechtsprechung einem Nachdenken über die Dinge nicht verweigern; mit anderen Worten: Es ist alles so, wie es gestern auch war; seit 1971 hat sich in Sachen Homeoffice nichts Grundlegendes geändert.
III. Die Fragwürdigkeit dieser fünf Bruchstellen
Schauen wir uns diese fünf Bruchstellen an, so liegt es auf der Hand, dass Homeoffice als Ausprägung der Flexibilisierung von Arbeit im Kontext „Arbeit 4.0“ eine Herausforderung für das traditionelle Verständnis von Arbeit und Arbeitsunfallschutz ist. Systemtheoretisch ist es daher kein Wunder, dass „das System“ in eine Art Abwehrhaltung geht. So zeigt sich gerade in der Rechtsprechung, dass teils mit tradierten Denkmustern zentrale Freiheitsaspekte des Arbeitens 4.0[17] im Bereich des Homeoffice hinsichtlich der Organisation von Arbeit (Ort, Zeit, Art) argumentativ für die Verneinung von Arbeitsunfallschutz verwendet werden respektive zum Teil eine richterliche Rechtsfortbildung der Dinge verweigert wird.
Das sollten wir ändern. Wir sehen eine Arbeitswelt im Wandel, ob uns das gefällt oder nicht. Und diese sich verändernde Arbeitswelt braucht neben einer gelingenden Prävention auch einen Arbeitsunfallschutz, der „mit denkt“ und der „mit geht“.[18] Tut er das nicht, wird der „Gap“ zwischen der Arbeitswelt und dem System gesetzlicher Unfallversicherung immer größer. Irgendwann verliert man sich aus den Augen. Damit ist nicht gemeint, dass die gesetzliche Unfallversicherung oder die Rechtsprechung jedem Trend hinterherlaufen möge – das mit Sicherheit nicht. Allein das Verharren in tradierten Denkmustern, ohne sich zu bewegen, ohne sich bewegen zu wollen, sollten wir aufgeben.[19] In diesem Sinne liegt es nahe, dass wir den Faktor „Arbeit“ selbst in den Blick nehmen, unabhängig davon, wo, wie und wann gearbeitet wird. Die Basis dafür liefert im Übrigen der tragende Grundsatz der gesetzlichen Unfallversicherung selbst. Wir haben eine Tätigkeitsversicherung; Menschen sind in aller Regel nicht unfallversichert, weil sie etwas sind oder weil sie irgendwo sind, sondern weil sie etwas tun; egal, ob im Unternehmen oder anderswo, oder eben zu Hause.
Wenn wir das dem Grunde nach zu denken bereit sind und dazu noch den Stellenwert von Homeoffice in der aktuellen Pandemie berücksichtigen, liegt es doch auf der Hand, Homeoffice und die Arbeit im Unternehmen gleichzubehandeln – auch im Arbeitsunfallschutz.[20] Wie weit wir dann konkret diesen Schutz spannen, insbesondere wie wir mit der Entgrenzung von Arbeit und ihrer Verquickung von Arbeit und Privatem umgehen – darüber sollten wir erneut nachdenken, aber ohne eine Form von Arbeit schon zu Anfang zu diskreditieren. Im Zuge eines möglichen Gesetzes über Homeoffice könnten wir diese Gleichberechtigung verschiedener Arten von Arbeit mit einem einzigen, die Gleichstellung aussprechenden Satz auf den Weg bringen.
Dann tun wir´s doch.