Wie die Pandemie auf die Selbststeuerung von Kindern und Jugendlichen wirkt

Die Pandemie hat die Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern und Jugendlichen eingeschränkt. Dies hat negative Auswirkungen auf eine gesunde Lebensführung, sicheres Verhalten, Bildung und Sozialverhalten. Die Entwicklung und wirksame Förderung von Selbstregulation und Handlungssteuerung bilden einen Ausgangspunkt für Gegenmaßnahmen und gezielte Prävention.

Die COVID-19-Pandemie brachte große Veränderungen und Herausforderungen mit sich, im Arbeits- und Familienalltag, im sozialen Leben, im Sport und in der Freizeitgestaltung. Viele Menschen sorgten sich um die eigene Gesundheit und die von Familie, Freundinnen und Freunden, um den Arbeitsplatz oder die gesamtwirtschaftliche Entwicklung. Ein Teil der Menschen in Deutschland kam mehr oder weniger gut mit den plötzlichen Veränderungen zurecht, sehr viele fühlten sich hochbelastet und viele brachte die Pandemie auch an ihre Grenzen und führte zu Überforderungen. Wie gut die oder der Einzelne mit der Pandemie und ihren Folgen zurechtkam, hing zum einen von der jeweiligen persönlichen Situation ab, also beispielsweise davon, ob der eigene Arbeitsplatz in Gefahr war oder nicht. Aber auch wenn die pandemiebedingten Herausforderungen ähnlich waren, bewältigten die Betroffenen diese unterschiedlich gut. Entscheidend für den Umgang mit Veränderungen, Problemen sowie kurz- und langfristigen Belastungen sind bestimmte Kompetenzen, die bei jeder Person anders ausgeprägt sind. Zu diesen Kompetenzen gehören beispielsweise die kognitive Flexibilität, die die Anpassung an neue Situationen unterstützt, die Fähigkeit, gut mit Frustrationen umzugehen, und die Fähigkeit, die eigenen Emotionen „im Griff“ zu behalten, negative Gedanken und Gefühle nicht überhandnehmen zu lassen. Diese Kompetenzen beruhen auf einer gemeinsamen Grundlage, die die Basis von Selbst- und Handlungsregulation bildet: den sogenannten exekutiven Funktionen.

Die exekutiven Funktionen sind nicht nur relevant für die Anpassung an Veränderungen während der COVID-19-Pandemie, sondern zentral für die Steuerung und Kontrolle des Verhaltens und die Regulation von Emotionen in allen Lebenslagen. Sie sind aus psychologischer sowie neurowissenschaftlicher Perspektive inzwischen sehr gut untersucht. Letztlich handelt es sich bei den exekutiven Funktionen um eine Anzahl zusammenwirkender höherer geistiger Funktionen, die der Handlungssteuerung und Selbstkontrolle dienen.[1]

Sie ermöglichen es uns, Pläne zu machen, Ziele zu verfolgen, vorausschauend und nicht unüberlegt zu handeln, Ablenkungen und Versuchungen zu widerstehen, aber eben auch, sich an Veränderungen anzupassen sowie die eigenen Gedanken und Emotionen zu regulieren. Damit bilden die exekutiven Funktionen die Grundlage für gute sozial-emotionale Kompetenzen sowie für kognitive Kompetenzen und damit für planvolles und umsichtiges Verhalten, erfolgreiche Lern- und Bildungsprozesse, beruflichen und privaten Erfolg und eine insgesamt positive Lebensführung. Sie werden wirksam, indem sie uns ermöglichen, unsere Aufmerksamkeit auf die wesentlichen Aspekte einer Situation oder Anforderung zu lenken sowie unser Verhalten, unsere Denkprozesse und Gefühle zu kontrollieren und bei Bedarf anzupassen beziehungsweise zu korrigieren. Obwohl die exekutiven Funktionen eine große Spannbreite an zum Teil sehr komplexen Fähigkeiten erst möglich machen und von großer Bedeutung sind, lassen sie sich auf nur drei Kernkomponenten zurückführen:[2]

  1. Das Arbeitsgedächtnis stellt die Informationen (beispielsweise Wahrnehmungsinhalte, Vorwissen) bereit, die für die gerade anstehenden Handlungen oder Regulationsprozesse gebraucht werden; es erlaubt die Bearbeitung dieser Inhalte (Informationen verbinden, Schlussfolgerungen ziehen) und bei Bedarf deren Aktualisierung.
  2. Die Inhibition (Hemmung) erlaubt die Unterdrückung vorschneller, impulsiver und unbedachter Handlungen sowie die Hemmung von Verhalten, Gedanken oder Emotionen, die – zumindest in der aktuellen Situation oder im Hinblick auf ein bestimmtes Ziel – hinderlich, unpassend oder unerwünscht sind.
  3. Die kognitive Flexibilität ermöglicht die Anpassung von Verhalten und Denkprozessen an neue Anforderungen, sich (plötzlich) ändernde Situationen sowie im sozialen Miteinander, den selbstgesteuerten Wechsel zwischen verschiedenen Aufgaben oder Arbeitsschritten sowie einen Perspektivwechsel unter anderem beim problemlösenden Denken, in sozialen Situationen oder der Bewertung von Situationen.

Aufgrund ihrer zentralen Stellung leisten die exekutiven Funktionen einen unverzichtbaren Beitrag zu gesundheits- und sicherheitsbewusstem Verhalten, dem Umgang mit Risiken und der Vermeidung von Unfällen: Gering ausgeprägte exekutive Funktionen stehen im Zusammenhang mit einem erhöhten Unfallrisiko [3]und der Tendenz zu riskanten Verhaltensweisen. Dieses ist besonders für das Verhalten im Straßenverkehr gut untersucht: Sowohl schnelles, riskantes Fahrverhalten und die Nichtbeachtung von Regeln als auch Ablenkung durch die Nutzung von Mobiltelefonen stehen in Zusammenhang mit gering ausgeprägten exekutiven Funktionen.[4] [5] Bei Jugendlichen ist die Tendenz zu riskantem Verhalten bei schwächeren exekutiven Funktionen besonders stark ausgeprägt (unter anderem im Straßenverkehr, [anti]sozialem Verhalten, Sexualverhalten, Suchtmittelmissbrauch)[6] [7] mit den entsprechenden gesundheitlichen Folgen [8]. Dagegen unterstützen gut ausgeprägte exekutive Funktionen bereits bei Kindern im Grundschulalter ein sichereres Verhalten im Straßenverkehr[9] und die Fähigkeit zur Risikoabschätzung im Verkehr. [10][11]

Zudem stehen die exekutiven Funktionen mit der Gesundheit insgesamt und mit einzelnen gesundheitsbezogenen Maßnahmen in Zusammenhang[12] [13], mit gesundheitsförderlichem Ernährungs- und Bewegungsverhalten [14] [15] [16] und dem Erfolg bei der Teilnahme an Präventionsmaßnahmen [17]. Im Bereich der psychischen Gesundheit tragen exekutive Funktionen zu emotionaler Stabilität, Stressresistenz und einem günstigen Umgang mit psychischen Belastungen bei. [18]

Anhand der Daten einer neuseeländischen Langzeitstudie, der Dunedin Multidisciplinary Health and Development Study, konnte die hohe Bedeutung der exekutiven Funktionen für den Lebenserfolg auf unterschiedlichen Ebenen belegt werden [19]: Mit 30 Jahren hatten die Personen, die im Kindesalter eine bessere Selbstkontrolle gezeigt hatten, höhere Bildungsabschlüsse, ein höheres Einkommen, eine bessere körperliche und geistige Gesundheit, stabilere soziale Beziehungen sowie eine geringere Neigung zu Suchtmittelabhängigkeit und Kriminalität. Zugleich belegen diese und ähnliche Studien, dass die individuelle Ausprägung und Wirkung der exekutiven Funktionen im Erwachsenenalter damit zusammenhängen, wie gut diese bereits in der Kindheit und Adoleszenz entwickelt sind. [20] [21]

Aus neurobiologischer Sicht ist das folgerichtig: Der für die exekutiven Funktionen entscheidende präfrontale Cortex entwickelt sich verhältnismäßig spät und schließt seine Entwicklung erst im frühen Erwachsenenalter ab. [22] [23]Das macht eine Förderung der exekutiven Funktionen von der frühen Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter möglich. In den Hauptphasen der Entwicklung sind Maßnahmen zur Förderung jedoch am effektivsten. Eine Hauptentwicklungsphase der exekutiven Funktionen liegt im Alter von drei bis sechs Jahren und geht in eine etwas langsamere, aber wesentliche Weiterentwicklung im Grundschulalter über. [24] Unter dem hormonellen Einfluss der Pubertät öffnet sich durch Umbauprozesse im Frontalhirn ein weiteres Zeitfenster, das nochmals eine Förderung exekutiver Funktionen besonders erleichtert.[25]

Diese Zusammenhänge müssen beachtet werden, wenn die exekutiven Funktionen gezielter als bisher für die Stärkung von sicherheitsbewusstem und risikoarmem Verhalten am Arbeitsplatz und im Straßenverkehr, von gesundheitsbewusstem Verhalten und gutem Umgang mit psychischen Belastungsfaktoren nutzbar gemacht werden sollen. Da die exekutiven Funktionen in allen diesen Bereichen von hoher Relevanz sind, sollte man nicht darauf verzichten, sie im Sinne der Prävention und entsprechend dem aktuellen Stand der Forschung zu fördern. Allerdings muss man dafür besonders frühzeitig, in Kindheit und Jugend, mit entsprechenden Maßnahmen beginnen: Interventionsstudien zeigen, dass exekutive Funktionen und Selbstregulation gut förderbar sind, vor allem während der sensiblen Entwicklungsphasen in Kindheit und Jugend. [26]

Da alle Kinder von der Förderung der exekutiven Funktionen profitieren [27], sollten Interventionen nicht nur Risikokinder einbeziehen. Besonders stark profitieren jedoch die Kinder mit schlechteren Ausgangswerten. [28] Daher kann eine (frühzeitige) Förderung zu mehr Chancengleichheit und Teilhabe von Kindern mit Beeinträchtigungen beitragen.

Kinder und Jugendliche während der Pandemie

Kinder und Jugendliche benötigen für die Entwicklung der exekutiven Funktionen eine anregende Umgebung, soziale Kontakte zu Gleichaltrigen und Erwachsenen, Bewegung sowie kognitive Anregungen und Herausforderungen, wie sie schulisches Lernen, aber auch entdeckendes Lernen in der Kita bieten. Das machte die Situation während der Pandemie für Kinder und Jugendliche besonders schwierig: Durch Schul- und Kitaschließungen, das Verbot sozialer Kontakte und fehlende Bewegungs- und Freizeitangebote waren Kinder und Jugendliche Einschränkungen ausgesetzt, die ihren grundlegenden Entwicklungsbedürfnissen diametral entgegenstehen.

Zugleich wurde von Kindern und Jugendlichen aber ein hohes Maß an Selbstregulation und Handlungskontrolle gefordert: Wechselnde Regeln mussten eingehalten, die Trennung von Freundinnen, Freunden und Bezugspersonen musste bewältigt werden, ebenso der Umgang mit Einsamkeit, Langeweile und Enttäuschungen.[29] [30]Da sich die für Selbstregulation und Handlungssteuerung entscheidenden exekutiven Funktionen bei Kindern und Jugendlichen aber noch in der Entwicklung befinden[31], können diese den Herausforderungen weniger entgegensetzen als Erwachsene[32].

Dementsprechend führten die Pandemie und die damit verbundenen Maßnahmen zu nachweislich negativen Auswirkungen auf die psychische und körperliche Gesundheit von Kindern und Jugendlichen, auf ihre sozial-emotionale Entwicklung sowie auf ihren Bildungserfolg[33]. Emotionale Probleme bei Kindern und Jugendlichen nahmen während der Pandemie zu[34]. Die körperliche Aktivität, Sport und Bewegung im Freien nahmen (nach anfänglich positivem Trend) ab, mit entsprechenden Folgen für motorische Entwicklung, körperliche Fitness und Gesundheit[35]. In den schulischen Leistungen zeigten sich (zum Teil erhebliche) Probleme.[36] Insgesamt sind vor allem jüngere Kinder sowie Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen betroffen[37]. Parallel zu den in der Öffentlichkeit diskutierten Entwicklungsnachteilen durch die Pandemie konnten Beeinträchtigungen der Entwicklung der exekutiven Funktionen wissenschaftlich nachgewiesen werden[38] [39]. Das war aufgrund der ungünstigen Bedingungen während der Pandemie zu erwarten gewesen[40].

Vor dem Hintergrund der großen Bedeutung exekutiver Funktionen ist absehbar, dass die pandemiebedingt verzögerte Entwicklung exekutiver Funktionen nicht ohne Auswirkungen auf Bildung und Lernerfolg, Gesundheit, Sozialverhalten, aber auch auf sicherheitsbezogenes Verhalten und erhöhte Unfallzahlen bleibt. Während etwa mit Blick auf Lernrückstände und soziale Interaktionen bereits gesellschaftliche und politische Gegenmaßnahmen ergriffen werden[41], findet die Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen bei Kindern und Jugendlichen wenig Beachtung. Dadurch läuft man Gefahr, an den Symptomen zu arbeiten, Ursachen aber unbeachtet zu lassen. Gerade jetzt durch Corona und die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie geht es mehr denn je darum, die exekutiven Funktionen bei Kindern und Jugendlichen zu fördern. Welche Maßnahmen und Ansätze zur Förderung wirkungsvoll sind und wie sich diese in Bildungsinstitutionen umsetzen lassen, unterscheidet sich je nach Entwicklungsstand und Altersstufe.

Kita-Alter: Entwicklungsspurt und Chancen

Bis zum dritten Lebensjahr sind Kinder noch nicht zu einer stabilen eigenständigen Selbstregulation in der Lage. Sie sind auf die Begleitung von Erwachsenen angewiesen. Etwa ab dem dritten Lebensjahr entwickelt sich die auf den exekutiven Funktionen basierende Selbststeuerung[42]. Die ersten Schritte in der Entwicklung der exekutiven Funktionen sind geprägt durch den Übergang von der Regulation durch Erwachsene hin zur zunehmenden Selbstregulation. Die Kinder benötigen weiterhin Unterstützung bei komplexen Handlungsanforderungen und in Stress auslösenden oder belastenden Situationen bei gleichzeitiger Förderung altersangemessener, autonomer Selbstregulation und Handlungssteuerung[43]. Im Kindergartenalter sind Arbeitsgedächtnis, Inhibition und kognitive Flexibilität so eng miteinander verbunden[44] [45], dass sie aus pädagogischer Sicht als ein einziger, übergeordneter Kontrollmechanismus bewertet werden und dementsprechend ganzheitlich gefördert werden können.

Ein stabiles, gut strukturiertes, verlässliches Umfeld sowie zielgerichtete Formen der sozialen Interaktion und Unterstützung durch Erwachsene wirken positiv auf die Ausbildung exekutiven Funktionen [46]. Eine unvorhersehbare, unberechenbare Umwelt verzögert dagegen insbesondere die Entwicklung der Inhibitionsfähigkeit [47]. Ein stabiles Umfeld ebenso wie eine sensible Begleitung der kindlichen Entwicklung in der Familie sind häufig beeinträchtigt, wenn Eltern oder andere Betreuungspersonen aufgrund finanzieller oder sonstiger Probleme wenig Zeit und Geduld aufbringen können. Pandemiebedingt ist die Belastung von Familien in dieser Hinsicht deutlich größer geworden.

Neben familienunterstützenden Maßnahmen können hier entsprechende Förderkonzepte in Kindertageseinrichtungen einen wichtigen Ausgleich leisten. Dabei führt eine alltagsintegrierte, ganzheitliche Förderung nachweislich zu größeren Effekten als der Einsatz von Einzelmaßnahmen[48]. Für Deutschland wurde ein solcher Ansatz für den Kindergarten mit dem Programm „EMIL – Emotionen regulieren lernen“ vom ZNL TransferZentrum für Neurowissenschaften und Lernen im Auftrag der Baden-Württemberg Stiftung entwickelt. Wesentliche Elemente der Förderung, die in „EMIL“ aufeinander abgestimmt eingesetzt werden, sind:

  1. stabile zeitliche und räumliche Strukturen, die die Kinder zur erfolgreichen Planung ihres eigenen Verhaltens anregen
  2. einfache, aber stabile Regeln und Rituale, deren Umsetzung eingefordert und unterstützt wird
  3. Dialog und Interaktion zwischen Fachkraft und Kind zur Anregung und Unterstützung des Einsatzes exekutiver Funktionen
  4. Gestaltung der Gruppenstruktur zur Förderung sozialer Interaktionen und
  5. spezifische Angebote, Aktivitäten und Materialien[49]

Das Programm wirkt sich nachweislich positiv auf die Entwicklung der exekutiven Funktionen aus[50]. Das Setting Kindertageseinrichtung bietet besondere Chancen zur Förderung: Die sozialen Interaktionen unter den Kindern können pädagogisch genutzt werden, um zur Entwicklung der exekutiven Funktionen beizutragen. Förderliche Angebote und Aktivitäten in der Gruppe sind möglich, die so nicht in der Familie umgesetzt werden können. Das soziale Miteinander in der Gruppe bietet zahlreiche Lerngelegenheiten: Im gemeinsamen Spiel müssen Handlungen geplant und abgestimmt werden [51], Spielregeln müssen eingehalten werden und das Kind muss auf die Spielhandlungen der Mitspielenden reagieren. Konfliktsituation sind, wenn sie gut durch die pädagogische Fachkraft begleitet werden, besondere Gelegenheiten zur Förderung der exekutiven Funktionen: Konfliktlösung erfordert, dass man sich selbst zurückhält (inhibiert), nicht streitet oder gar handgreiflich wird und dass man Kompromisse findet, wozu kognitive Flexibilität notwendig ist.

Förderliche Angebote und Aktivitäten basieren darauf, dass selbstgesteuerte Eigenaktivitäten des Kindes eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung der exekutiven Funktionen sind, wobei diese Aktivitäten so zu gestalten sind, dass das Kind hinsichtlich seiner Selbststeuerung, Handlungsplanung und/oder Handlungsüberwachung immer wieder stark gefordert ist. Hier gibt es verschiedene Möglichkeiten, von denen einige herausgegriffen werden sollen. Körperliche Aktivität wirkt sich nachweislich positiv auf die Entwicklung der exekutiven Funktionen aus[52]: Bewegungen müssen ausgeführt und während der Ausführung ständig überwacht und korrigiert werden. Besonders wirksam ist sie in Verbindung mit kognitiven Herausforderungen[53], etwa in Bewegungsspielen, die wechselnde Anforderungen stellen, bei komplexen Bewegungsabläufen und im Mannschaftssport. Aber auch Tätigkeiten wie zum Beispiel Bauen, Werken, planvolles künstlerisches Gestalten stellen entsprechende Anforderungen an die exekutiven Funktionen. Um die förderliche Wirkung der Eigenaktivitäten der Kinder zu optimieren, kann die geschulte Fachkraft Kinder dazu anregen, Ziele und geplante Aktivitäten zu verbalisieren, um so dem Kind die Handlungsplanung bewusst zu machen. Sehr wirkungsvoll ist diese Maßnahme bei komplexeren Eigenaktivitäten, beispielsweise im Rollenspiel [54] Als zusätzliche, angeleitete Aktivitäten eignen sich Spiele, die die exekutiven Funktionen gezielt fordern.[55]

Grundschulalter: Reifung und Übung

Im Grundschulalter differenzieren sich die exekutiven Funktionen immer weiter aus[56] [57]. Die Fähigkeit, ablenkende Reize auszublenden (Inhibition) und sich zu konzentrieren, wächst in dieser Zeit. Die sich entwickelnde kognitive Flexibilität ermöglicht es dem Kind, sich zunehmend schneller auf neue Situationen und Anforderungen einzustellen und (in Zusammenarbeit mit dem Arbeitsgedächtnis) mehrere Aspekte gleichzeitig bei der Planung zu berücksichtigen. Dadurch kann die Handlungsplanung immer komplexer werden. Auch für problemlösendes, abstraktes Denken ist die Entwicklung der kognitiven Flexibilität im Grundschulalter von Bedeutung. Wie schnell und stark sich die einzelnen Komponenten der exekutiven Funktionen ab dem Grundschulalter entwickeln, hängt davon ab, wie intensiv diese jeweils vom Umfeld beansprucht und damit gefördert werden.

Im Projekt „abc – achtsam, bedacht, clever!“ erarbeitet und evaluiert das ZNL, gefördert von der DGUV, ein Konzept zur „Stärkung von exekutiven Funktionen und Selbstregulation als Grundlage für Sicherheit, Gesundheit und Bildungserfolg in der Grundschule“, das eine gezielte und praxistaugliche Förderung ermöglichen soll, die alle drei Komponenten der exekutiven Funktionen ausgewogen berücksichtigt[58].

Im Grundschulalter nimmt die Abhängigkeit von einer stark strukturierten Umgebung und von der Unterstützung durch Erwachsene ab. Wichtiger wird das soziale Umfeld in seiner Summe: Bereits das Schulklima an sich hat Auswirkungen auf die Entwicklung der exekutiven Funktionen[59]. Daher zielt das Projekt „abc“ auf eine in den Unterrichts- und Schulalltag integrierte Förderung.

In den ersten Grundschuljahren ist besonders das Arbeitsgedächtnis für erfolgreiche Lernprozesse entscheidend. Sämtliches Faktenwissen, das in einem bewussten Lernprozess erworben wird, ist auf das Arbeitsgedächtnis als „Zwischenstation“ angewiesen, unter anderem das Lesen, Schreiben und Rechnen[60] [61]. Einerseits begrenzt somit ein noch wenig ausgereiftes Arbeitsgedächtnis die vorhandene Lernfähigkeit der Kinder, andererseits können aber die „normalen“ Unterrichtsinhalte direkt zur Förderung des Arbeitsgedächtnisses eingesetzt werden. Oft genügen eine leichte Vereinfachung oder geeignete Hilfsmittel, damit die gestellte Aufgabe das Arbeitsgedächtnis angemessen trainiert, während das Kind die Aufgabe bearbeiten und dabei auch inhaltlich lernen kann. Bei Kindern mit bereits gutem Arbeitsgedächtnis müssen höhere Anforderungen gestellt werden, damit die Entwicklung nicht ins Stocken kommt. Grundsätzlich bietet der bekannte und in den Lehrplänen verankerte Ansatz der Differenzierung im Unterricht hier die notwendigen Möglichkeiten. Eine wesentliche Ergänzung dieses Ansatzes ist es, bei den Lehrkräften ein Bewusstsein für die Bedeutsamkeit des Arbeitsgedächtnisses zu schaffen und Hinweise bereitzustellen, wie Arbeitsgedächtnisprobleme erkannt und gezielt adressiert werden können.

Da sich Arbeitsgedächtnis und Inhibition im Kindergartenalter parallel entwickeln, haben Kinder mit geringer Arbeitsgedächtniskapazität in der Regel auch Probleme mit ihrer Konzentration. Zudem kann sich eine gering ausgeprägte Fähigkeit zur Inhibition als mangelnde Impulskontrolle im sozialen Miteinander zeigen. Anders als das Arbeitsgedächtnis lässt sich die Inhibitionsfähigkeit nicht so gut aufgaben- und lernprozessintegriert fördern, obwohl die Inhibition als Grundlage von Aufmerksamkeitssteuerung und Konzentration wichtig für das schulische Lernen ist. Eher lässt sich die Inhibition gezielt in zusätzlichen Aktivitäten oder beispielsweise in „bewegten Pausen“ fördern.

Dagegen kann die kognitive Flexibilität gut unterrichts- und aufgabenorientiert gefördert werden. Aufgaben, die Denkprozesse anregen und problemlösendes Denken erfordern, beispielsweise im Mathematikunterricht und im forschenden Lernen, fördern die kognitive Flexibilität, ebenso Rätsel und Knobelaufgaben im Lese- und Schreibunterricht. Wesentlich ist in diesem Zusammenhang die kognitive Aktivierung der Schülerinnen und Schüler.

Bestimmte Gestaltungselemente des Unterrichts sind geeignet, die exekutiven Funktionen in ihrer Gesamtheit zu fördern. Auch im schulischen Setting ist die selbst geplante (!) Eigenaktivität der Kinder wichtig. Eine systematische Hinführung an selbstgesteuertes Lernen unter Berücksichtigung der individuellen Voraussetzungen ist förderlich, ebenso Gruppenarbeiten, die Förderung gegenseitiger Unterstützung im Unterricht, gezieltes Peer-Tutoring, aber auch die Hilfestellung durch die Lehrkraft bei Konfliktlösungen und sozialen Aushandlungsprozessen. Die für das Kindergartenalter beschriebenen Chancen, die in pädagogisch begleiteten Aushandlungsprozessen und Konfliktlösungen liegen, bietet im Grundschulalter weiterhin eine gute Fördermöglichkeit – insbesondere für die Förderung von Inhibition und kognitiver Flexibilität. Besonders diese Aspekte finden im Grundschulsetting oft wenig Berücksichtigung, obwohl ungelöste Konflikte Stress bei Kindern erzeugen, durch den Lernprozesse direkt beeinträchtigt werden.

Besonders geeignet, um exekutive Funktionen in ihrer Gesamtheit zu fördern, ist die körperliche Bewegung. Studien des ZNL zeigen, dass und wie Bewegung eingestreut zwischen Unterrichtselementen, im Sportunterricht oder über den Unterricht hinaus die exekutiven Funktionen stärkt.[62] [63] [64] [65] Neben der Integration in den Unterricht ist vor allen Dingen zu prüfen, in welcher Weise Bewegungs- und Spielangebote im Ganztag noch gezielter zur Förderung exekutiver Funktionen eingesetzt werden können. Ähnliches gilt für weitere Aktivitäten, die die Eigentätigkeit der Kinder fördern, zum Beispiel Musik- und Kunstunterricht, Theaterspiel. Erweiterte Angebote wie gezielter Instrumentalunterricht – auch im Ganztag – oder kreative Angebote können bei entsprechender Gestaltung die Entwicklung der exekutiven Funktionen fördern [66].

Ein Aspekt, der im Grundschulalter wesentlich bedeutsamer ist als noch im Kindergarten, ist die Tatsache, dass die exekutiven Funktionen „ermüden“, wenn sie über längere Zeit gefordert sind [67]. Hier muss gegebenenfalls für Entlastung gesorgt werden, etwa durch Bewegung (bevorzugt im Freien) oder spielerische Aktivitäten.

Jugendalter: Flexibilität und Risiko

Im Jugendalter ermöglicht die Weiterentwicklung der exekutiven Funktionen den flexiblen Umgang mit zunehmend komplexeren Sachverhalten und Situationen[68]. Gleichzeitig müssen die exekutiven Funktionen als Steuerungsinstanz ein Gegengewicht zu den Impulsen und Trieben schaffen, die durch die entwicklungsbedingten Veränderungen in der Pubertät – in Kopplung mit dem Einfluss der Peers – großen Einfluss auf das Verhalten ausüben. Im Jugendalter lässt sich ein deutlicher Anstieg riskanter, oft lebensgefährlicher Verhaltensweisen feststellen. Dies gilt sowohl für das Verhalten im Straßenverkehr als auch in Freizeitsituationen, für den Konsum von Alkohol und Drogen und den Umgang mit anderen[69] [70]. Begründet werden kann die erhöhte Risikobereitschaft durch entwicklungsgemäße, hormonell bedingte hirnphysiologische Veränderungen: Heranwachsende in der Pubertät zeigen eine veränderte Aktivität im Belohnungsschaltkreis des Gehirns, wenn sie sich risikoreich verhalten[71]: Die Veränderung im Belohnungsschaltkreis dient eigentlich dazu, erwachsen zu werden, zunehmende Unabhängigkeit vom Elternhaus und mehr Autonomie zu gewinnen, Erfahrungen zu sammeln, die für den späteren Lebensweg wichtig sind, und langfristig funktionelle Strategien in einer Vielzahl von Situationen zu üben. Ob die Aktivität des Belohnungssystems so weit eingedämmt werden kann, dass übermäßig riskantes Verhalten ausbleibt, hängt unter anderem davon ab, wie gut sich die exekutiven Funktionen vor der Pubertät entwickelt haben. Beide Systeme, der Belohnungsschaltkreis und die exekutiven Funktionen, arbeiten auf interaktive Weise zusammen und tragen zur Entscheidung für oder gegen ein (möglicherweise riskantes) Verhalten bei [72]. Je stärker die exekutiven Funktionen bereits vor der Pubertät ausgeprägt sind, umso geringer ist die Tendenz zu übermäßig riskantem Verhalten im Jugendalter.

Um der Tendenz zu risikoreichem Verhalten etwas entgegenzusetzen, ist es sinnvoll, die exekutiven Funktionen bei Jugendlichen intensiv zu fördern. Der kognitive Aspekt der Förderung ist durch die zunehmend komplexen Anforderungen in den schulischen Unterrichtsfächern, beispielsweise in den Naturwissenschaften oder im Mathematik- und Technikunterricht, bereits abgedeckt. Ebenso bleibt Bewegung ein wesentlicher „Motor“ für die Entwicklung der exekutiven Funktionen. In einer eigenen Studie konnten die positiven Auswirkungen eines Lauftrainings für Jugendliche und junge Erwachsene anhand von Testungen der exekutiven Funktionen sowie auf der Ebene der Hirnfunktionen (mittels EEG) belegt werden[73] Leider bewegen sich Kinder und Jugendliche umso weniger, je älter sie werden[74], sodass diesbezüglich Handlungsbedarf besteht.

Interventionen zur Reduktion riskanten Verhaltens sind erfolgreich[75], besonders dann, wenn die Förderung der exekutiven Funktionen mit einem Training des angemessenen Umgangs mit Risiken verbunden wird. So können beide „Problemfelder“ gleichzeitig adressiert werden. Ein Beispiel ist das Projekt „YOLO – (Selbst)sicher Radfahren“, in dem das ZNL gefördert von der DGUV und dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat (DVR) ein solches Trainingsprogramm für Jugendliche entwickelte, das zu einem Rückgang der Unfälle im Freizeitsport und der Pausenunfälle sowie zu einer Verbesserung der exekutiven Funktionen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe führte[76]. Der Ansatz beinhaltete:

  1. Vermittlung von Informationen über das Zusammenspiel von Selbststeuerung, Risikoverhalten und dem Einfluss Gleichaltriger in der Pubertät
  2. Möglichkeiten zum eigenen Erleben in herausfordernden Situationen (unter anderem Parkour, Kampfkunst)
  3. Reflexion dieser Situationen

Die herausfordernden Situationen enthielten gezielte Elemente zur Stärkung der exekutiven Funktionen und dienten der Verbesserung der Risikokompetenz, indem sowohl die Einschätzung der Anforderungen einer herausfordernden Situation als auch die Einschätzung der eigenen Fähigkeiten, diese Situation zu bewältigen, trainiert wurden. Besonders bewährt hat sich in diesem Programm, die Fähigkeit der Jugendlichen zu nutzen, gedanklich „einen Schritt zurückzutreten“, das eigene Verhalten von einer Metaebene aus zu betrachten und in der Diskussion mit anderen zu bewerten. Das Programm YOLO ist für den Einsatz in Nachmittagsangeboten als Arbeitsgruppe im Ganztagsangebot (Schul-AG) konzipiert. Bisher gibt es in Deutschland keine Programme, die eine solche Verbindung der Förderung exekutiver Funktionen und der Risikokompetenz bieten.

Fazit

Die Ausprägung der exekutiven Funktionen in der Kindheit wirkt sich deutlich bis ins Erwachsenenalter hinein auf Gesundheit, Risikoverhalten und Lebenserfolg aus.[77] Die Zeitfenster, in denen die Entwicklung der exekutiven Funktionen nachhaltig positiv beeinflusst werden kann, liegen im Kindes- und Jugendalter und enden im frühen Erwachsenenalter. Aufgrund ihrer Bedeutung ist es nicht egal, ob Kinder gute exekutive Funktionen etwas früher oder später erwerben. Je besser die exekutiven Funktionen bereits früh ausgeprägt sind, umso stärker profitieren die Kinder von Bildung und Erziehung sowie von Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und Prävention und können einen guten Umgang mit Risiken und die Einhaltung von (auch unbequemen) Regeln trainieren. Will man die exekutiven Funktionen im Sinne der Prävention der Unfallkassen nutzbar machen, sollte man nicht erst im Erwachsenenalter beginnen, sondern muss bei Kindern und Jugendlichen ansetzen.