Brüssel möchte Plattformbeschäftigung regulieren

Viele Plattformbeschäftigte fallen durch das Netz der sozialen Sicherung. Die EU-Kommission möchte das ändern und hat am 9. Dezember vergangenen Jahres einen Richtlinienvorschlag vorgelegt. Ziel ist, die Rechte der Plattformbeschäftigten zu stärken. Die Feststellung ihres Beschäftigungsstatus spielt dabei eine besondere Rolle.

In den vergangenen Jahren hat die Plattformbeschäftigung, zusätzlich beschleunigt durch die COVID-19-Pandemie, in immer mehr Wirtschaftszweigen eine rasante Entwicklung genommen – man denke nur an die Essenslieferanten und -lieferantinnen. So arbeiten heute EU-weit mehr als 28 Millionen Menschen über digitale Arbeitsplattformen. Laut EU-Kommission könnte diese Zahl bis 2025 auf 43 Millionen ansteigen.[1] Plattformbeschäftigung bietet sowohl für digitale Arbeitsplattformen, für Verbraucherinnen und Verbraucher als auch für Menschen, die in der Plattformökonomie arbeiten, ein großes Potenzial für Innovationen, neue Geschäftsmodelle und flexible Formen der Arbeitsorganisation. Gleichzeitig stellt sie aber auch bestehende arbeits- und sozialrechtliche Rechte und Pflichten infrage.

Deswegen beschäftigt sich Brüssel auch schon seit einigen Jahren mit der Frage, wie Plattformbeschäftigte eine faire soziale Absicherung erhalten können.

Soziale Sicherung als wichtiger Baustein

Mit den neu vorgeschlagenen Regelungen[2] möchte die EU-Kommission sicherstellen, dass Personen, die über digitale Arbeitsplattformen arbeiten, auch die ihnen zustehenden Beschäftigtenrechte und Sozialleistungen in Anspruch nehmen können. In der Praxis werden heutzutage Erwerbstätige, die gegenüber digitalen Arbeitsplattformen tätig sind, häufig als Selbstständige erfasst. Viele davon sind bei der Ausübung ihrer Tätigkeit auch tatsächlich selbstständig und nutzen bewusst die Plattformarbeit, um ihre unternehmerischen Aktivitäten zu entwickeln. Andere dagegen werden von der Plattform in unterschiedlichem Maße kontrolliert und befinden sich de facto in einem Abhängigkeitsverhältnis. Diese Personen sind dann in der Regel der Gefahr von schlechten Arbeitsbedingungen sowie eines fehlenden oder eingeschränkten Zugangs zu angemessenem Sozialschutz bei Arbeitsunfällen, Arbeitslosigkeit, Krankheit und im Alter ausgesetzt. Damit verbunden sind die Risiken unlauteren Wettbewerbs, nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit, fragmentierter und unvorhersehbarer Einkommen und Arbeitszeiten, mangelnder Qualifizierungsmöglichkeiten sowie fehlender Maßnahmen für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz.

So wurde in einer im Auftrag des Europäischen Parlaments erstellten Studie festgestellt, dass Plattformbeschäftigte unabhängig von ihrem Beschäftigungsstatus mit einem hohen Risiko für prekäre Beschäftigungsverhältnisse konfrontiert sind. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die gering qualifiziert Online-Plattformarbeit leisten.[3]

Datennutzung wirft Fragen auf

Nicht nur die soziale Absicherung von Plattformbeschäftigten wird in Brüssel diskutiert. Der digitale Wandel hat auch neue Möglichkeiten des algorithmischen Managements geschaffen. Neben dem Innovationspotenzial geht dies jedoch mit Fragen der Überwachung, der Datennutzung, der Gleichstellung und Diskriminierung von Plattformbeschäftigten einher. Somit ist ein neuer Regelungsbedarf entstanden, damit diese neuen Möglichkeiten nicht zulasten der Arbeitsbedingungen sowie des Gesundheitsschutzes und der Arbeitssicherheit von Plattformbeschäftigen gehen. Deswegen sollen die Plattformbeschäftigten mit den neuen Regelungen zusätzlichen Schutz bei der Verwendung von automatisierten Systemen, die Managementfunktionen bei der Arbeit unterstützen oder ersetzen, erhalten.

Große Zustimmung für europäische Regelung

Plattformbeschäftigung ist oft auch eine neue Form grenzüberschreitender Arbeit, die sich alleinigen nationalen Regelungen entzieht. Um das Potenzial der Plattformarbeit nutzen zu können und gleichzeitig den Sozialschutz von Beschäftigten auch in der Plattformökonomie zu sichern, wurde schon früh ein europäischer Regelungsrahmen gefordert.

So hatte die Bundesregierung Maßnahmen zur Gewährleistung guter Tätigkeitsbedingungen und sozialer Sicherheit in den neuen Arbeitsformen wie der plattformbasierten Arbeit zu einem Thema ihrer Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2022 gemacht.[4] Auch der Rat der Europäischen Union hat in seiner Empfehlung zum Zugang zum Sozialschutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie Selbstständige die teilweise stark eingeschränkte Absicherung von Plattformbeschäftigten hervorgehoben.[5]

Das Europäische Parlament hat am 16. September 2021 mit 524 Jastimmen bei 39 Gegenstimmen und 124 Enthaltungen eine Entschließung zu einem europäischen Rahmen für Plattformbeschäftigung angenommen. Danach sollen die Chancen der Digitalisierung genutzt werden. Plattformbeschäftigte sollten jedoch über das gleiche Maß an sozialem Schutz verfügen wie nicht auf Plattformen beschäftigte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit vergleichbaren Tätigkeiten.

Die Entschließung zielt auch auf die oft schlechten Arbeitsbedingungen von Plattformbeschäftigten unabhängig von deren Beschäftigungsstatus ab. So fordert das EU-Parlament neben einer gesünderen und sicheren Arbeitsumgebung durch Arbeits- und Schutzmaterialien auch die Mitgliedstaaten der EU auf, Plattformbeschäftigten Zugang zur Absicherung gegen Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten, Krankenversicherung und Versicherungsschutz im Falle einer Erwerbsminderung zu gewähren.[6]

Vorschläge aus Brüssel

Mit dem Richtlinienvorschlag möchte die Europäische Kommission einen europaweit gültigen Rahmen für den Zugang zum Sozialschutz und zu den Arbeitsrechten von Plattformbeschäftigten schaffen. Es sollen keine starren Regeln festgelegt werden, vielmehr möchte die Brüsseler Behörde mit einer Reihe von Mindeststandards den Plattformbetreibenden und -beschäftigten mehr Rechtssicherheit gewähren. Von den neuen Regelungen sollen alle Plattformbeschäftigten profitieren, die innerhalb der Europäischen Union arbeiten – unabhängig vom jeweiligen Standort der Arbeitsplattform.[7]

Im Fokus: Beschäftigungsstatus

Ein Schwerpunkt des Richtlinienvorschlags ist die Festlegung des Beschäftigungsstatus. Er soll den tatsächlichen Arbeitsregelungen entsprechen und nicht der vertraglichen Vereinbarung zwischen Plattformbeschäftigten und digitalen Arbeitsplattformen.[8]

Basierend auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat die EU-Kommission fünf Kriterien aufgestellt, anhand derer festgestellt werden soll, ob ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis oder eine selbstständige Tätigkeit vorliegt. Diese betreffen die Bestimmung der Höhe der Vergütung, verbindliche Regelungen in Bezug auf Erscheinungsbild und Verhalten, die Überwachung und Überprüfung der Arbeitsleistung, Einschränkungen in der eigenständigen Arbeitsorganisation und der Auftragsannahmen sowie Restriktionen beim Aufbau eines eigenen Kundenstamms. Als abhängig beschäftigt gilt demnach, wenn zwei oder mehr Kriterien erfüllt werden. Das Vorliegen eines Beschäftigungsverhältnisses wird dann vermutet. Für die digitalen Arbeitsplattformen besteht die Möglichkeit, diese gesetzliche Vermutung in Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zu widerlegen. Die Beweislast soll aber bei den digitalen Arbeitsplattformen liegen. Das Verfahren soll keine aufschiebende Wirkung auf die Anwendung der gesetzlichen Vermutung haben. Damit soll sichergestellt werden, dass den Plattformbeschäftigten, die in ihrer Arbeit tatsächlich in einem Unterordnungsverhältnis stehen, frühzeitig der Zugang zu Arbeits- und Sozialschutz gewährleistet wird.

Mehr Transparenz bei Datennutzung

Der Richtlinienvorschlag soll auch die Nutzung von Algorithmen durch digitale Arbeitsplattformen regulieren. Zentraler Aspekt ist eine erhöhte Transparenz bei deren Anwendung zur Überwachung der Arbeitsleistung, da hiervon direkte Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen und die Gesundheit sowie Sicherheit am Arbeitsplatz ausgehen. Auch wird die Verarbeitung personenbezogener Daten, wie beispielsweise zur Gesundheit der Plattformbeschäftigten, eingeschränkt. Des Weiteren sollen digitale Arbeitsplattformen Risiken automatisierter Überwachungs- und Entscheidungssysteme für die Sicherheit und Gesundheit von Plattformbeschäftigten bewerten und geeignete Präventions- und Schutzmaßnahmen einführen.

Ein zentraler Aspekt ist auch das Recht, eventuelle automatisierte Entscheidungen anfechten zu können. Dieses Recht soll für alle Plattformbeschäftigten gelten, unabhängig vom Beschäftigungsstatus.[9]

Weiterhin sollen für digitale Arbeitsplattformen Transparenz- und Meldepflichten ausgeweitet werden.[10]

Bisherige Kritikpunkte

In den bisherigen Stellungnahmen[11] des von der EU-Kommission eingeleiteten Konsultationsprozesses werden insbesondere die Statusfeststellung anhand der gesetzlichen Vermutung mittels fünf Kriterien, die Beweislastumkehr und die nicht aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs gegen die Statusfeststellung zum Teil kritisch diskutiert. Bei einer begrenzten Anzahl fester Kriterien besteht die Gefahr einer entsprechenden Anpassung der Verträge zwischen Plattformbeschäftigten und digitalen Arbeitsplattformen. Diese Gefahr besteht insbesondere, wenn Plattformbeschäftigte in einem Untergebenenverhältnis zu der sie beschäftigenden digitalen Arbeitsplattform stehen. In diesem Fall ist davon auszugehen, dass die Plattformbeschäftigten nur einen geringen Einfluss auf die Vertragsgestaltung haben und die tatsächliche Ausgestaltung des Beschäftigungsverhältnisses von den vertraglichen Regelungen abweichen kann. Die Folge wäre, dass die gesetzliche Vermutung aufgrund der formalen Erfüllung der vorgeschlagenen Kriterien nicht zur Anwendung käme. Aus Sicht der Europavertretung der Deutschen Sozialversicherung ist daher wesentlich, dass das tatsächliche Beschäftigungsverhältnis der gesetzlichen Vermutung zugrunde liegt.

Das belgische Wirt­schafts- und Arbeitsministerium hatte daran erinnert, dass Plattform­beschäftigte einem 15-mal höheren Risiko ausgesetzt seien, einen Arbeitsunfall zu erleiden, als eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer.

Belgien als Vorreiter

Die soziale Absicherung von Plattformbeschäftigten steht auch in der belgischen Politik aktuell im Fokus. Ein Teil der am 15. Februar 2022 vorgestellten Arbeitsmarktreform sind neue Vorgaben für die Feststellung des Beschäftigungsstatus von Plattformbeschäftigten sowie deren Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.

Bei der Vorstellung des Reformpakets hat sich die Regierung dabei explizit auf den Richtlinienvorschlag der Europäischen Kommission zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit bezogen und die drei im Konsultationsprozess zum Teil kritisch diskutierten Aspekte übernommen. Abweichend vom Vorschlag der Europäischen Kommission soll die gesetzliche Vermutung hier anhand von acht Kriterien erfolgen. Die Vermutung einer abhängigen Beschäftigung kommt zur Anwendung, sobald drei der acht Kriterien oder zwei der fünf Kriterien erfüllt sind.

Darüber hinaus soll eine obligatorische Absicherung gegen Arbeitsunfälle für alle Plattformbeschäftigten unabhängig von deren Beschäftigungsstatus eingeführt werden. Dies war dem belgischen Wirtschafts- und Arbeitsministerium wichtig. Es hatte daran erinnert, dass  Plattformbeschäftigte einem 15-mal höheren Risiko ausgesetzt seien, einen Arbeitsunfall zu erleiden, als eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer. 

Der Versicherungsschutz muss hierbei von der digitalen Arbeitsplattform gezahlt werden. Es bleibt abzuwarten, wie der Gesetzestext am Ende des Verfahrens aussehen wird. Derzeit liegt der belgische Vorstoß erst einmal den Sozialpartnern zur Stellungnahme vor.[12]