„Die Erfahrungen der Pandemie für Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz nutzen“

Ein Gespräch mit Isabel Rothe, Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA), über das Positionspapier des Rats der Arbeitswelt „Der Betrieb als sozialer Ort“.

Frau Rothe, der Rat der Arbeitswelt, dessen Mitglied Sie sind, hat sich von Beginn an sehr genau die Auswirkungen der Pandemie auf die Betriebe angeschaut. Vor diesem Hintergrund ist jetzt das Positionspapier „Der Betrieb als sozialer Ort“ entstanden. Welches Ziel verfolgt der Rat mit dem Positionspapier?

ROTHE: Mit dem Positionspapier setzen wir fort, was wir bereits in unserem ersten Arbeitswelt-Bericht 2021 begonnen haben. Wir beobachten, was in der Arbeitswelt aktuell geschieht – insbesondere in Kontext der Pandemie –, und wir entwickeln vor diesem Hintergrund Gestaltungsempfehlungen für die zukünftige Arbeitswelt. Dabei nutzen wir die Expertise unseres Gremiums sowie der beteiligten Institute und suchen das Gespräch mit weiteren Vertretern und Vertreterinnen der Sozialpartner und der Wissenschaft. Unsere Empfehlungen richten sich an die Politik wie auch an betriebliche und überbetriebliche Akteure und Akteurinnen der Arbeitswelt und wir informieren sehr gern auch die interessierte Öffentlichkeit.

In unserem aktuellen Positionspapier „Der Betrieb als sozialer Ort“ haben wir auf Basis fachlicher Analysen und intensiver Diskussionen im Rat als zentrale Empfehlungen formuliert: Die Erfahrungen aus der COVID-19-Pandemie sollten für die weitere Gestaltung der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes aktiv genutzt werden. Dabei ist besondere Aufmerksamkeit auf die Arbeitsbedingungen im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen zu richten. Für die zunehmende mobile Arbeit wünschen wir uns eine gute betriebliche Verankerung und eine aktive Mitgestaltung durch die unterschiedlichen Akteursgruppen. Und nicht zuletzt: Der Betrieb als sozialer Ort bleibt weiterhin zentral: für Innovation, für gemeinsame Leistung – daher gilt es, Präsenz zu fördern und zu gestalten.

Der Titel mag auf den ersten Blick verwundern. Was hat die Pandemie mit dem Betrieb als sozialen Ort zu tun?

Zunächst möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen: Ohne ein intensives kollegiales Miteinander im Betrieb wäre es nicht möglich gewesen, die Pandemie in der Weise zu bewältigen, wie die allermeisten Betriebe dies geschafft haben. Mancherorts mussten ganze Geschäftsmodelle zügig umgekrempelt werden, wie beispielsweise im Handel oder in der Gastronomie, oder mit überhohem Arbeitsaufkommen unter besonders schwierigen Arbeitsbedingungen umgegangen werden, wie beispielsweise in Bereichen des Gesundheitswesens. Alle Betriebe mussten Arbeitsschutzmaßnahmen in kürzester Zeit etablieren, immer wieder anpassen und lange durchhalten. Die notwendigen Maßnahmen waren sehr umfangreich und haben das Engagement aller Beteiligten und häufig auch das konkrete individuelle Verhalten bei der Umsetzung der Maßnahmen gefordert. Zentral hierbei war, dass man sich aufeinander verlassen konnte – im Betrieb als sozialen Ort.

Gleichzeitig ist in vielen Bereichen nach nunmehr zwei Jahren der Pandemie durch die weitgehenden Kontaktbeschränkungen das soziale Miteinander stark eingeschränkt. Das Arbeiten während der Pandemie war und ist mehr als zuvor geprägt durch medial vermittelte Kommunikation mit Kolleginnen und Kollegen sowie Führungskräften. Das hat auch Auswirkungen auf den Betrieb als Ganzes. Formalisierte Kontakte und Arbeitsanlässe lassen sich relativ gut in digitale Formate übertragen, für den informellen und sozial integrativen Austausch bleibt dabei jedoch weniger Raum. Gerade diese informelle Kommunikation ist aber für den sozialen Zusammenhalt, die gegenseitige Unterstützung, für das Lernen bei der Arbeit bis hin zur Aus- und Weiterbildung von Beschäftigten essenziell. Gleiches gilt für Innovation und gemeinsame Problemlösung.

Der Rat der Arbeitswelt hat sich daher zur Frage der gemeinsamen Präsenz klar positioniert. Auch wenn wir in der Pandemie gelernt haben, dass ortsflexible Arbeit und digitale Kommunikation häufig besser funktionieren, als wir vorher angenommen hatten, so ist doch genauso deutlich geworden, wie wichtig der Betrieb als Ort der Begegnung, der direkten Kommunikation und Zusammenarbeit, letztlich auch als Ort der Innovation und Weiterentwicklung ist. Daher sprechen wir uns für einen gesunden Mix aus Präsenzbetrieb und ortsflexibler Arbeit aus.

Isabel Rothe, Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin  | © Sylwia Wisbar
Isabel Rothe, Präsidentin der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin ©Sylwia Wisbar

Welche Maßnahmen zum Schutz vor einer Infektion wurden in den Betrieben getroffen?

Die BAuA hat die Einführung von pandemiebedingten Arbeits- und Infektionsschutzmaßnahmen fortlaufend beobachtet. So haben wir zum Beispiel gemeinsam mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung begleitend zur Pandemie mehrere Betriebsbefragungen durchgeführt. Zusätzlich wurden Akteurinnen und Akteure des Arbeitsschutzes systematisch von uns befragt.

Die Ergebnisse der Befragungen zeigen, dass die allermeisten Betriebe umfangreiche Maßnahmen des Arbeitsschutzes ergriffen haben, in einem sehr breiten Portfolio: Technische Maßnahmen, organisatorische Maßnahmen und personenbezogene Maßnahmen, von der Nutzung von Luftreinigungsanlagen und technischer Abtrennungen, über veränderte Schichtmodelle zur Entzerrung des Dienstbetriebs bis hin zu Hygieneregeln und dem konsequenten Tragen von Schutzmasken.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass Maßnahmen der Verhaltensprävention deutlich mehr im Vordergrund standen als Maßnahmen der Verhältnisprävention, anders als im Arbeitsschutz eigentlich üblich. Damit solche Maßnahmen Wirkung entfalten, müssen die Menschen im Betrieb vor Ort die Regeln verstehen und aktiv umsetzen –  für ihren eigenen Schutz und für den Schutz ihrer Kolleginnen und Kollegen. Und das wiederum setzt eine gute und kontinuierliche Kommunikation auf allen Ebenen voraus. Dazu hat sicher auch beigetragen, dass die Schutzmaßnahmen deutlich stärker als üblich von den Unternehmensleitungen selbst getragen wurden.

Das Auf und Ab des Infektionsgeschehens und die bisweilen kurzfristige Anpassung überbetrieblicher Regelungen haben allen betrieblichen Akteuren und Akteurinnen viel abverlangt. Diese Herausforderungen zu bewältigen wäre nicht möglich gewesen ohne das große Engagement aller Beteiligten, von den Akteurinnen und Akteuren des Arbeitsschutzes, den Führungskräften und Interessenvertretungen und nicht zuletzt von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern.

Kommen wir noch einmal zu den Details: Welche Beeinträchtigungen hat es in den verschiedenen Branchen gegeben?

Hier sind zuallererst ökonomische Beeinträchtigungen zu nennen, denn die Geschäftsmodelle einiger Betriebe, allen voran des Gastgewerbes, waren durch die erforderlichen Maßnahmen in ganz besonderer Weise betroffen. Neben zeitweisen Schließungen, Kurzarbeitsregelungen und aus dem Boden gestampften Geschäftsprozessen ist es hier ganz sicher die große und anhaltende Arbeitsplatzunsicherheit, die zu hohen Belastungen bei den Beschäftigten führt.

Darüber hinaus hatte das Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen, also die personenbezogenen Dienstleistungen, unter besonderen Belastungen durch die Pandemie zu funktionieren. Denn in diesem Bereich greifen die vielfältigen Schutzmaßnahmen unmittelbar in die Tätigkeit selbst ein; die Interaktion als Gegenstand der Arbeit findet unter erschwerten Bedingungen und mit erhöhten Risiken statt. Dies gilt beispielsweise für Beschäftigte in der Pflege, für Lehrkräfte, für Erzieherinnen und Erzieher oder Beschäftigte in der Behindertenhilfe. Vier von fünf Beschäftigten aus dieser Branche berichten von Erschwernissen bei der Arbeit während der Interaktion mit Dritten. Auch durch Ängste vor einer Infektion bei der Arbeit sowie Überforderung durch erhöhtes Arbeitsaufkommen waren Beschäftigte im Gesundheits- und Sozialwesen in den letzten beiden Jahren besonders betroffen.

Gibt es Branchen, in denen der Rat bei der Verbesserung des Arbeitsschutzes einen besonderen Handlungsbedarf sieht?

Es sind genau diese personenbezogenen und sozialen Dienstleistungen, mit denen sich der Rat der Arbeitswelt besonders beschäftigt hat. In diesen Berufen waren die Arbeitsanforderungen schon vor der Pandemie hoch und die Situation hat sich beispielsweise durch ein erhöhtes Infektionsrisiko und neu hinzugekommene Hygieneauflagen noch weiter verschärft. Aber auch durch Herausforderungen in der Kommunikation, beispielsweise mit den zu betreuenden Personen und mit den Angehörigen.

In der COVID-19-Krise hat sich nochmals ein hoher Investitionsbedarf offenbart. Dieser betrifft aus Sicht des Rats der Arbeitswelt alle Aspekte der Gestaltung guter Arbeit: die räumlich-technischen Voraussetzungen, die digitale Ausstattung und Infrastruktur, aber auch Arbeitszeiten und Entlohnung sowie ausreichende Spielräume für interprofessionelle Kooperation und Koordination. Übergreifend gilt es für diese Berufe eine bedarfsgerechte Personalbemessung für ausreichendes und ausreichend qualifiziertes Personal zu etablieren. Um diese Personalbemessung auch konkret umsetzen zu können, müssen wiederum Fragen der Fachkräftesicherung und der Fachkräftegewinnung für diese Branchen konsequent angegangen werden. Eine gute Gestaltung personenbezogener Dienstleistungsarbeit kann dazu beitragen, die Attraktivität der Berufe langfristig wieder zu steigern.

Wie wirken sich die pandemiebedingten Homeoffice-Regelungen in den Betrieben aus? Wie kann es in Zukunft weitergehen zwischen Homeoffice und Büro? Welche Rolle wird das Büro nach Pandemieende spielen?

Die Pandemie hat in vielen Betrieben zu einem großen Digitalisierungsschub geführt und dies hat deutlich besser funktioniert als erwartet. Gleichwohl ist das Homeoffice in der Pandemie nicht das Homeoffice, das wir für die Zukunft gestalten wollen. Denn Homeoffice fand häufig unter schwierigen Bedingungen statt, beispielsweise mit unzureichender Ausstattung, kombiniert mit Homeschooling, und durch die stark eingeschränkte Präsenz vor Ort mit nur sehr geringem direkten Kontakt mit Kolleginnen und Kollegen. So geben 90 Prozent der Beschäftigten mit coronabedingtem Homeoffice an, dass sie nach der Corona-Zeit weniger im Homeoffice arbeiten wollen, weil ihnen der persönliche Kontakt zu den Kolleginnen und Kollegen wichtig ist. Die Hälfte der Befragten sagt, dass sie Arbeit und Privatleben trennen wollen, und etwa 40 Prozent können ihre Tätigkeiten im Homeoffice nicht so gut erledigen wie im Büro.

Aus Sicht des Rats der Arbeitswelt sollte der Gefahr der Entgrenzung der Arbeitszeiten, aber auch des zunehmenden Zeitdrucks und des eingeschränkten Kontakts von mobil arbeitenden Beschäftigten zu Kolleginnen und Kollegen begegnet werden, indem betriebliche und gegebenenfalls gesetzliche Regelungen für das mobile Arbeiten im Homeoffice getroffen werden. Wichtige Aspekte sind hierbei nicht nur Fragen der ergonomischen Gestaltung eines Arbeitsplatzes im eigenen Zuhause, sondern auch verbindliche Maßgaben zu Erreichbarkeit und eben auch Nichterreichbarkeit. Gleichzeitig gilt es, gemeinsam Präsenz im Betrieb gezielt zu fördern und dabei auch den Austausch zwischen den unterschiedlichen Beschäftigtengruppen – denjenigen, die zeitweise ortsflexibel arbeiten, und denjenigen, deren Tätigkeiten vor Ort stattfinden – aktiv zu gestalten.  

Daher sollte – so die Position des Rats der Arbeitswelt – ein angemessener Mix aus Präsenzbetrieb und ortsflexiblem Arbeiten angestrebt werden.

Für diese neue, hybride Normalität mit einem Mix aus Präsenz und Ortsflexibilität wird in den Betrieben über neue Raumkonzepte nachgedacht. Für die Gestaltung der Präsenz sind ausreichende Büroflächen vorzuhalten; darüber hinaus sollte mitgedacht werden, wie Büros und Betriebsstätten dazu beitragen können, formelles wie informelles Lernen am Arbeitsplatz zu fördern. Zudem sollten auch Räume für das konzentrierte Arbeiten oder die Bearbeitung von vertraulichen Informationen zur Verfügung stehen. Diese neue Gestaltung von Arbeitsräumen in den Betrieben sollte auf der Agenda des Arbeitsschutzes eine ausreichende Rolle spielen.

Welche Erfahrungen aus der Pandemie sollten für die zukünftige Gestaltung des Arbeitsschutzes in Betrieben genutzt werden?

Viele Betriebe wollen pandemiebedingt eingeführte technische beziehungsweise verhältnisbezogene Schutzmaßnahmen längerfristig beibehalten, auch das zeigen unsere Studien. So sollen beispielsweise installierte Luftfilter weiterbetrieben werden und auch eine räumliche Trennung, zum Beispiel durch Schutzscheiben, will etwa die Hälfte der betroffenen Betriebe aufrechterhalten.

Auch personen- und verhaltensbezogene Maßnahmen bleiben in den Betrieben weiterhin relevant. Die Mehrzahl der befragten Betriebe möchte beispielsweise künftig Schutzmasken kurzfristig bereitstellen können. Genauso wollen viele Betriebe fortsetzen, was in der Pandemie konsequenter eingeübt wurde: Wer krank ist, bleibt zu Hause. Für die eigene Gesundheit und für die Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen.

Die Pandemie hat insgesamt zu einer stärkeren Wahrnehmung und Wertschätzung der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschutzes in den Betrieben geführt. Nahezu zwei Drittel der Betriebe geben an, dass sie den Arbeitsschutz bei künftigen Entscheidungen stärker berücksichtigen wollen und die Führungskräfte vermehrt für Fragen des Arbeitsschutzes qualifiziert werden sollen. Besonders häufig wird herausgestellt, dass die Mitwirkung der Beschäftigten im Arbeitsschutz an Bedeutung gewinnt.

Reflektiert man diese Befunde und auch die aktuellen und künftigen Herausforderungen, so ist es sehr wichtig, den betrieblichen Arbeitsschutz auf hohem Niveau zu halten. Die Pandemie ist noch nicht vorüber und auch langfristige Auswirkungen, wie etwa der Umgang mit Erkrankungen, werden die Betriebe sehr fordern. Aber auch generell sind die Gestaltungsherausforderungen für die Betriebe im Wandel der Arbeit sehr groß, etwa durch technologische Innovation, neue Geschäftsmodelle und flexible Arbeitsformen. Daher plädiert der Rat dafür, das außerordentliche Engagement aller Beteiligten für den Arbeitsschutz der vergangenen Jahre für eine differenzierte und sachgerechte Weiterentwicklung des Arbeitsschutzes zu nutzen.

Das Gespräch führte Elke Biesel