Fortschritte in der Ermittlung und Bewertung der Einwirkung von Berufskrankheiten
Neben der Diagnose einer klar definierten Erkrankung ist das Vorliegen einer relevanten Einwirkung am Arbeitsplatz eine entscheidende Voraussetzung für die Anerkennung einer Berufskrankheit. Daher fördern die Unfallversicherungsträger kontinuierlich die Entwicklung einheitlicher Qualitätsstandards für die Ermittlung und Bewertung der Einwirkung im BK-Verfahren.
Als Berufskrankheiten werden in Deutschland Krankheiten bezeichnet, die nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht sind, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind.[1] Diese Definition fasst bereits die notwendigen wichtigen Voraussetzungen – Versicherungsschutz, Krankheit und Einwirkung – zusammen, die jeweils im Sinne der Anforderungen einer Berufskrankheit erfüllt sein müssen. Die Prüfung auf Vorliegen der einzelnen Voraussetzungen obliegt den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung. Dieser Beitrag wirft einen Blick auf die aktuellen Herausforderungen und Lösungsansätze bei der Ermittlung und Bewertung der Einwirkung im Berufskrankheitenverfahren.
Der Verordnungsgeber hat die Berufskrankheiten in der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) als Berufskrankheitenliste zusammengefasst. Diese Liste enthält zum 1. April 2025 insgesamt 85 verschiedene Positionen.[2] Diese Zahlen verdeutlichen, dass die Ermittlung der Einwirkung im BK-Verfahren große Anforderungen an die zuständigen Beschäftigten in der gesetzlichen Unfallversicherung stellt.
Herausforderungen in der BK-Ermittlung
Die Einwirkungsermittlung bei 85 verschiedenen Berufskrankheiten mit entsprechend großer Variabilität – von Lärm und Vibrationen über Exposition gegenüber Gefahrstoffen, Fasern oder UV-Strahlung bis hin zu Arbeiten im Knien oder Lastenhandhabung – erfordert ein umfangreiches Fachwissen in ingenieur- und naturwissenschaftlichen Themen.
Allein im Jahr 2023 sind bei den gewerblichen Berufsgenossenschaften, den Unfallversicherungsträgern der öffentlichen Hand und der Schülerunfallversicherung insgesamt 145.359 Anzeigen auf Verdacht einer Berufskrankheit eingegangen.[3] In den meisten Fällen bedeutet dies, dass eine Ermittlung der Einwirkung durchzuführen ist. Neben der großen Anzahl an Ermittlungen stellt auch der Umfang der einzelnen Ermittlung eine große Herausforderung dar: Bei vielen Berufskrankheiten ist es notwendig, die relevanten Einwirkungen retrospektiv über das gesamte Berufsleben einer versicherten Person zu ermitteln, sei es aufgrund sehr langer Latenzzeiten zwischen der Einwirkung und dem Beginn der Erkrankung oder einer zu ermittelnden kumulativen „Lebensdosis“. Je nach Lebenslauf können in diesen Fällen Ermittlungen an vielen unterschiedlichen Arbeitsplätzen und in vielen verschiedenen Unternehmen notwendig sein. Dabei existieren die entsprechenden Unternehmen beziehungsweise Arbeitsplätze häufig nicht mehr oder die zu untersuchenden Tätigkeiten haben sich im Laufe der Zeit etwa aufgrund der Einführung neuer Technologien stark verändert.
Der technologische Fortschritt bei der Gestaltung von Arbeitsplätzen hat seit der Einführung von Berufskrankheiten in Deutschland vor 100 Jahren auch dazu geführt, dass bestimmte Berufskrankheiten heute sehr selten vorkommen. Damit das entsprechende Fachwissen im Einzelfall aber weiterhin zur Verfügung steht, muss es bewahrt und weitergetragen werden.
Qualitätssicherung in der BK-Ermittlung
Um den genannten Anforderungen gerecht zu werden, sind die Unfallversicherungsträger aufgefordert, qualitätssichernde Maßnahmen in der BK-Ermittlung zu ergreifen. Die DGUV als zuständiger Spitzenverband hat im Jahr 2016 in ihren Vorschlägen zur Reform des BK-Rechts entsprechende Ansatzpunkte[4] aufgezeigt:
- Entwicklung (und Pflege) geeigneter Arbeitshilfen und Handlungsempfehlungen,
- Entwicklung (und Pflege) tätigkeitsbezogener Einwirkungskataster,
- Einsatz von Berechnungstools,
- Schaffung einer elektronischen Informationsplattform,
- Qualifizierungsangebote für BK-Ermittelnde,
- Schaffung eines generationenübergreifenden Wissenstransfers sowie
- gegenseitige Unterstützung der Unfallversicherungsträger bei selten vorkommenden Berufskrankheiten.
Trägerübergreifende Zusammenarbeit
Die übergreifende Zusammenarbeit hat sich in den Präventionsbereichen der Unfallversicherungsträger seit Langem bewährt. Es bietet sich an, das branchenbezogene Fachwissen der einzelnen Träger zu nutzen. Um diese wertvolle Ressource in der Ermittlung und Bewertung der Einwirkung fest zu implementieren und die entsprechenden Qualitätsstandards zu harmonisieren, wurde eine trägerübergreifende Arbeitsgruppe (AG „BK-Einwirkung“[5]) unter Federführung des Instituts für Arbeitsschutz der DGUV (IFA) gegründet. Sie identifiziert regelmäßig auftretende Schwierigkeiten bei der BK-Ermittlung oder der Bewertung der Einwirkungsbedingungen, entwickelt passende Lösungskonzepte, koordiniert den trägerübergreifenden Wissens- und Erfahrungsaustausch und stellt die neuen Informationen zentral für alle Unfallversicherungsträger zur Verfügung.
Darüber hinaus bilden die Mitglieder der AG „BK-Einwirkung“ auch den Kern der im Jahr 2021 gegründeten „Zentralen Expertenstelle für BK-Einwirkungen (ZExBK)“. Diese Koordinierungsstelle unterstützt die Unfallversicherungsträger bei der Beurteilung schwieriger Einwirkungssituationen in BK-Verfahren. Dies gilt insbesondere für Fälle der Beweislosigkeit, in denen ein Unfallversicherungsträger nach Ausschöpfung aller ihm als geeignet erscheinenden Ermittlungsmöglichkeiten zu dem Ergebnis gelangt, dass die Einwirkung zwar möglich erscheint, aber weder eindeutig bewiesen noch eindeutig widerlegt werden kann (Non-Liquet-Fälle). Derartige Fallkonstellationen sind verpflichtend an die ZExBK-Leitung im IFA zu melden.
Handlungsempfehlungen
Die DGUV-Handlungsempfehlung „Ermittlung und Bewertung der Einwirkung im Berufskrankheitenverfahren“[6][7] fasst einheitliche Standards und Werkzeuge für die BK-Ermittlung zusammen. BK-Expertinnen und -Experten der Unfallversicherungsträger sorgen für eine regelmäßige Aktualisierung und Ergänzung des Dokuments. Zusätzlich zu dieser allgemeinen Empfehlung werden in der AG „BK-Einwirkung“ kontinuierlich spezifische Handlungsempfehlungen zu einzelnen Berufskrankheiten entwickelt. Inzwischen stehen Handlungsempfehlungen zu den BK-Nr. 2101 („Erkrankungen der Sehnenscheiden“), 2108 bis 2110 („Bandscheibenbedingte Erkrankungen der Wirbelsäule“), 2113 („Carpaltunnel-Syndrom“), 4301, 4302 und 1315 („Atemwegserkrankungen“) und auch bereits für die neuen BK-Nr. 2117 („Läsion der Rotatorenmanschette“) und 4117 („COPD durch Quarz-Staub“) für die BK-Ermittlung zur Verfügung.
Einwirkungskataster
Die individuelle Einwirkungsermittlung für die versicherten Personen steht in allen BK-Feststellungsverfahren im Vordergrund, was insbesondere bei Ermittlungen an aktuellen Arbeitsplätzen in der Regel gut möglich ist. Daneben sind BK-Ermittlungen aber häufig erst viele Jahre nach Beendigung einer beruflichen Tätigkeit durchzuführen, sodass sich die Einwirkungssituation nicht mehr direkt prüfen lässt. Bei diesen (retrospektiven) Ermittlungen können Informationen zu vergleichbaren Fällen oder Daten aus tätigkeitsbezogenen Einwirkungskatastern eine wertvolle Hilfe darstellen. Aus diesem Grund treiben die Unfallversicherungsträger bereits seit Jahren die Entwicklung von Einwirkungskatastern voran. Mit der Einführung des § 9 Abs. 3a Sozialgesetzbuch (SGB) VII im Januar 2021 („Reform des BK-Rechts“) wurde die Bedeutung der Entwicklung und Verwendung von Katasterdaten im BK-Feststellungsverfahren vom Gesetzgeber nochmals gestärkt.
Bei den Einwirkungskatastern lassen sich verschiedene Datensammlungen mit abweichender Detailtiefe und Validität unterscheiden. Dazu zählen einfache „Positivlisten“ für Berufe und Tätigkeiten, von Fachleuten gestützte Tätigkeitsdokumentationen, Datensammlungen aus Betriebsmessungen (zum Beispiel Biostoffdatenbanken) sowie komplexere Zusammenstellungen wie messwert- und literaturbasierte Kompendien („BK-Reporte“) oder Daten aus zielgerichteten Forschungsprojekten.
Aktuelle Beispiele für Einwirkungskataster sind:
- IFA-Report 3/2024 „Lärmexposition im Berufsbild Zahntechniker/Zahntechnikerin“,
- IFA-Report 1/2023 „Lärmexposition von Strukturmechanikern und -mechanikerinnen bei der Herstellung und Instandhaltung von Großflugzeugen“,
- BK-Report 1/2022 „Ermittlung der Benzo[a]pyren-Dosis – BaP-Jahre“ (in Überarbeitung),
- IFA-Report 3/2022 „Quarzexpositionen am Arbeitsplatz“ sowie
- BK-Report 1/2021 „Nickel und seine Verbindungen“.
Eine Übersicht zu den einzelnen Dokumenten findet sich auf der Homepage des IFA.[8]
Als Beispiel für die zielgerichtete Forschung zur Kataster-Entwicklung sei auf die aktuell laufende Messserie zur Bildung eines „Schulter-Katasters“ im Sinne der neuen BK-Nr. 2117 („Läsion der Rotatorenmanschette“) verwiesen.
Elektronische Informationsplattform und Berechnungstool
Die Unfallversicherungsträger konnten über die Jahre ein umfangreiches branchenspezifisches Expertenwissen zu den mannigfaltigen Einwirkungen bei Berufskrankheiten zusammentragen. Der Wissenstransfer erfolgt über entsprechende Publikationen, in trägerübergreifenden BK-Gremien oder dem persönlichen Austausch im Einzelfall. Als wichtiges Instrument hat sich eine zentrale elektronische Informationsplattform etabliert: Mit dem IFA-Ringbuch „BK-Ermittlung“ steht eine Unfallversicherungsträger-interne Plattform mit systematischer Darstellung der für die BK-Ermittlung relevanten Informationen zur Verfügung. Seit 2024 ist eine derartige systematische Informationsübersicht zur Einwirkung von Berufskrankheiten auch auf der Homepage des IFA abrufbar.[9]
Für die computergestützte Bewertung der Einwirkung bei aktuell 24 verschiedenen Berufskrankheiten steht den Unfallversicherungsträgern ein einheitliches digitales Berechnungstool („IFA-Anamnese-Software“) zur Verfügung. Die Software kommt insbesondere bei „Dosis-Berufskrankheiten“ zur Berechnung der kumulativen Gesamtdosis zum Einsatz. Die permanente Pflege und kontinuierliche Weiterentwicklung erfolgen im IFA in Zusammenarbeit mit BK-Expertinnen und -Experten der Unfallversicherungsträger.
Qualifizierungsmaßnahmen und Wissenstransfer
Neben der einheitlichen Schulung der Softwareanwendung für einzelne BK-Nummern im IFA fand die Ausbildung von BK-Ermittelnden bisher größtenteils bei den einzelnen Unfallversicherungsträgern intern statt. Trägerübergreifend wurde das Thema „BK-Ermittlung“ in erster Linie über die Ausbildung der Aufsichtspersonen abgedeckt. Hier kann es aber aufgrund der vielfältigen Ausbildungsinhalte nur einen geringen Zeitanteil einnehmen.
Vor diesem Hintergrund und zur Förderung eines einheitlichen, trägerübergreifenden Wissenstransfers wurde in den vergangenen Jahren ein neues Qualifizierungskonzept für BK-Ermittelnde entwickelt. Neben dem Grundlagenseminar „BK-Ermittlung“ werden aktuell Aufbauseminare mit den Schwerpunkten „Mechanische Einwirkungen“ und „Chemische Einwirkungen“ angeboten. Weitere Schwerpunkte sind in Vorbereitung.[10] Der trägerübergreifende Ansatz dieser Seminare dient zusätzlich dem Aufbau von Netzwerken und somit dem Wissensaustausch auf der Ebene der BK-Ermittelnden.
Fazit und Ausblick
Die Ermittlung und Bewertung der Einwirkung im Berufskrankheitenverfahren stellt eine große Herausforderung für die zuständigen Unfallversicherungsträger dar. Durch die gemeinsame und kontinuierliche Weiterentwicklung der relevanten Strukturen und neue qualitätssichernde Maßnahmen in der BK-Ermittlung sind die Unfallversicherungsträger auch in Zukunft für diese Aufgabe gut gerüstet.