Der Alltag kommt auch von außen

„… denn für den Unfallbegriff ist nicht konstitutiv, dass ein besonderes, ungewöhnliches Geschehen vorliegt. Vielmehr genügt als von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis auch ein alltäglicher Vorgang, so dass ein Unfall auch dann vorliegt, wenn durch bloße Wahrnehmungen (Sehen, Hören, Schmecken, Ertasten, Riechen) sich der physiologische Zustand des Verletzten ändert.“

Urteil des BSG vom 06.05.2021 – B 2 U 15/19 R –-, Terminbericht

Das Vorliegen eines Arbeitsunfalls setzt logischerweise voraus, dass (zunächst) ein Unfall vorliegt. Unfälle werden gemäß § 8 Abs. 1 Satz 2 Sozialgesetzbuch (SGB) VII definiert als „… zeitlich begrenzte, von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse, die zu einem Gesundheitsschaden oder zum Tod führen.“ In diesem Sinne sieht ein Unfall drei Elemente vor:

(1) ein Ereignis mit zwei Eigenschaften (zeitlich begrenzt und von außen auf den Körper einwirkend),
(2) einen Gesundheitsschaden/Tod und
(3) die ursächliche Verknüpfung von Ereignis und Gesundheitsschaden/Tod

In der hiesigen Fallkonstellation war fraglich, ob ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis vorliegt. Was war geschehen?

Am 12. April 2010 kam es anlässlich eines Kassenfehlbetrages zwischen der Klägerin, einer Bankkauffrau, und dem Filialleiter zu einem (Streit-)Gespräch, in dessen Verlauf unterschiedliche Standpunkte sachlich und in einem angemessenen Ton ausgetauscht wurden; das Gespräch endete „unschön, unharmonisch und frostig“. An ihren Schreibtisch zurückgekehrt erlitt die Klägerin dort einen Herzstillstand, der operativ versorgt wurde. Der zuständige Unfallversicherungsträger, das Sozialgericht Schleswig sowie das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht verneinten einen Arbeitsunfall, weil die Klägerin schon keinen Unfall erlitten habe; konkret: weil kein von außen auf ihren Körper einwirkendes Ereignis vorgelegen habe; das Gespräch sei nicht außergewöhnlich belastend gewesen, es sei ein alltägliches Ereignis im Berufsleben gewesen. Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht führte aus, dass zwar auch geistig-seelische Einwirkungen als von außen auf den Körper einwirkende Ereignisse angesehen werden können; aber – gerade in der Abgrenzung zwischen äußeren Ereignissen zu inneren, allein im Menschen selbst ablaufenden Vorgängen – nur dann, wenn es sich um „Extremsituationen“, wie zum Beispiel Erleben einer Todesgefahr, demütigende Versagenssituationen eines Schülers, ernsthafte Streitigkeiten mit Vorgesetzten oder extrem belastende Personalgespräche, handeln würde; das sei hier nicht der Fall gewesen. Der Herzstillstand der Klägerin sei insofern ein rein innerer (persönlicher) Vorgang gewesen, der nicht unter Unfallversicherungsschutz gestanden habe.

Dem widerspricht das Bundessozialgericht (BSG) zu Recht, indem es hervorhebt, dass sich ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis nicht als besonders ungewöhnlich, nicht als „extrem“ darstellen muss, sondern alltägliche, gewöhnliche Ereignisse ausreichen. Das ist nun allerdings keine neue Sichtweise; ein Blick in Rechtsprechung und Literatur verrät dies schon seit Jahren. Bei den in der Praxis sehr wichtigen Anhebefällen mit Sehnen-, Bänder- und Wirbelsäulenverletzungen sehen wir keine Belastungsgrenze von x-Kilogramm. Wo sollte eine solche Grenze auch (relativ oder absolut) liegen, ohne sofort einem Willkürvorwurf ausgesetzt zu sein? Auch das Gesetz selbst spricht nicht von „erheblich“ oder „extrem“; es fordert nur ein von außen auf den Körper einwirkendes Ereignis. Das hat auch seinen guten Grund, denn die gesetzliche Unfallversicherung will – auf Beschäftigte bezogen – normale, gewöhnliche Arbeit mit ihren normalen, gewöhnlichen Gefahren versichern und sich nicht auf Extremsituationen reduzieren. Deswegen ist das von außen auf den Körper einwirkende Ereignis in einem sehr weiten Sinne zu verstehen, sowohl bei gegenständlich-physischen als auch bei geistig-seelischen (psychischen) Ereignissen, womit das hier im Raum stehende Gespräch im Sinne von Hören beziehungsweise Wahrnehmen von außen auf die Klägerin einwirkte.

Auch das Sehen und Lesen dieses Beitrags ist ein von außen auf Ihren Körper einwirkendes Ereignis. Aber damit haben Sie noch lange keinen Unfall, geschweige denn einen Arbeitsunfall erlitten. Zwar dürften Sie die zeitliche Begrenzung des Ereignisses (innerhalb einer Arbeitsschicht) hier mit ein paar Minuten noch hinbekommen; aber wo ist der Gesundheitsschaden – und falls es einen geben sollte: Hat das Sehen oder Lesen dieses Beitrags diesen Gesundheitsschaden (rechtlich wesentlich) verursacht? Ich hoffe nicht.